MUSIKGESCHICHTE
Die Lebensbedingungen der Musik
Nach der Arpadenzeit kam es in Ungarn sowohl im politischen und Wirtschaftsleben als auch in der geistigen Sphäre, so im Bereich der Musik, zu Veränderungen. Die auf Westeuropa ausgerichtete Politik Karls I. brachte den anfänglichen Auflösungsprozeß (Mongolenüberfall, innere Anarchie) zum Stillstand, und im 14. Jahrhundert kann man bereits von einem tatsächlichen kulturellen Aufschwung sprechen. Durch die dynastischen Beziehungen der Angeviner öffnete sich der intellektuelle Gesichtskreis mehr und mehr in Richtung Westen. Bergbau und Handel kamen in Schwung, was zur Entstehung neuer urbaner Zentren führte (hauptsächlich im Oberland und in Siebenbürgen), und das wirtschaftliche Wachstum barg auch für die Musik neue Möglichkeiten. Zwar bildete sich bei uns kein so dichtes Städtenetz heraus wie im Westen, weshalb es auch nicht zu einer so hohen Konzentration von Intellektuellen kam, nicht kommen konnte, wie in den dortigen Zentren. Ungeachtet dessen zählt das Spätmittelalter als die Glanzzeit des musikalischen Lebens in Ungarn, welche im Hinblick auf Breite und Tiefe des Musikunterrichts und der musikalischen Praxis ein gleichermaßen einheitliches Bild zeigt.
Neue Angaben zum Musikleben
Neben einer wachsenden Zahl Musikdenkmäler (Notenhandschriften) belegen Urkunden und Bilanzen aus dieser Zeit, wie beständig und intensiv das kirchliche und öffentliche Musikleben war. Die Schule sorgte nicht nur für die musikalische Ausgestaltung der täglichen Messe und Vesper, sondern auch von Stiftungs- und Marienmessen sowie von Trauermessen und Bestattungen. Das bedeutete jeden Tag mindestens drei- bis vierstündiges Singen in der Kirche selbst. Bestimmte Sätze erwähnen die Stiftungsmessen sogar ihrem Titel nach. Beispielsweise das bekannte Salve Regina oder unter den neueren, moderneren Stücke das Ave verum corpus. Da die Mehrzahl dieser gestifteten Messen aus dem Oberland kommt, hängt ihre steigende Zahl möglicherweise mit der Lebensform wohlhabenderer Bürger zusammen.
Außerhalb der Kirche ließen die singenden Schüler ihre Stimmen ebenfalls erklingen. Sie nahmen beispielsweise an Sonntagsprozessionen oder spektakulären Umzügen teil (Begrüßungen, Wahlen), wo sie außer gregorianischen Gesängen auch mehrstimmige Stücke und muttersprachliche Kanzonen vortrugen. Diese Rekordation (gesangliche Begrüßung) genannte Tätigkeit - die auch Kleriker niedrigeren Ranges und sogar Bauern pflegten - blieb als Volksbrauch (Neujahrsgruß, Gruß zum Namenstag) bis heute erhalten. Und gerade diesem Brauch ist es zu verdanken, daß die Melodien mehrerer mittelalterlicher Begrüßungen überliefert wurden.
Jokulatoren und Instrumentalisten
Während der Begriff Jokulator in früheren Zeiten ebenso den Interpreten von Heldensagen wie den singenden Unterhalter bezeichnet hatte, verschob sich seine Bedeutung später immer mehr in Richtung des Letztgenannten. Anerkannteste Gruppe unter den Instrumentalisten waren die Trompeter (und mit ihnen die Trommler). Sie dürften nahezu klingende Symbole der herrschaftlichen bzw. königlichen Macht gewesen sein (Sigismund z.B. ließ sich von ihnen sowohl auf seinem Frankreichbesuch als auch zur Jagd oder zum Hausenfang begleiten). Als städtische Angestellte ist ihre Teilnahme an Festlichkeiten (z.B. Prozessionen) und ihre Einsatz als Turmwächter erwähnenswert.
Orgeln wurden in ungarischen Kirchen, wie wir wissen, vom 14. Jahrhundert an benützt (meist waren die Organisten gleichzeitig auch Orgelbauer). Die Franziskaner, Dominikaner und Pauliner gingen bei der Verwendung dieses Instruments mit gutem Beispiel voran. Parallel zum Erstarken der Städte gibt es vom 15. Jahrhundert an immer mehr Angaben in bezug auf die Orgelbenutzung. In damaliger Zeit diente die Orgel noch nicht zur Akkordbegleitung des Gesangs. Man nutzte sie entweder zur Ausschmückung der Melodie oder setzte sie der sog. alternatim-Praxis entsprechend von Absatz zu Absatz für den Wechsel von gesanglichem und instrumentalem Vortrag ein.
Die sich vom 14. Jahrhundert an vermehrenden Bezeichnungen für Instrumentalisten - Trommler (Dobos), Dudelsackpfeifer (Dudás), Fiedler (Hegedõs), Leiermann (Kobzos), Lautenspieler (Lantos), Hornbläser (Kürtös), Pfeifer Sípos) - waren damals noch keine ererbten Familiennamen, sondern bezogen sich eher auf die Beschäftigung. Innerhalb dieser Schicht der Instrumentalisten gab es die Gruppen: Dorfmusikanten, im Dienst einer Stadt stehende Musikanten, bei Aristokraten oder Klerikern (eventuell beim König) angestellte Musiker, Wandermusikanten. Sind uns aus dieser Zeit auch keine Denkmäler mit Notenzeichen überliefert worden, ist es angesichts der auf die Musik bezogenen Sekundärangaben "nicht unbegründet..., von einem bis zum 15. Jahrhundert das ganze Land überspannenden Netz von Musikern zu sprechen".
Die Musik der Königshofes
Der königlich Hof war eines der herausragendsten Zentren der Musikkunst, die mit der Annäherung an das Niveau der westeuropäischen Kapellen zur Zeit König Matthias' ihren Höhepunkt erreichte. Den ersten Schritt in dieser Richtung hatten die Angeviner getan, und unter Sigismund gewann die bei Hofe gepflegte Musik eine noch größere Bedeutung. König Sigismund, der den Ofner Palast ausbauen ließ und die königliche Kapelle neu organisierte, hielt es für wichtig, daß ihn auf seinen Reisen auch der berühmte Minnesänger Oscar von Wolkenstein begleitete, mit dem ihn ein fast freundschaftliches Verhältnis verband. Bei diplomatischen Missionen, so dem Konstanzer Konzil, war stets auch seine Kapelle dabei, gleichsam als musikalisches Statussymbol. Die Kapelle hatte eine eigene Schule, einen Organisten sowie Blasmusiker, was sie befähigte, auch moderne, mehrstimmige Musik vorzutragen. Wobei der an die Zeremonie gebundene gregorianische Gesang natürlich weiterhin ihre wichtigste Aufgabe blieb.
Die Situation des gregorianischen Gesangs im Spätmittelalter
Seine Vorrangstellung behielt der gregorianische Gesang auch im Spätmittelalter: Noch immer stellte er den grundlegenden Lehrstoff für den schulischen Gesangsunterricht dar, dessen theoretische und praktische Kenntnisse zum Elementarwissen eines mittelalterlichen Intellektuellen gehörten. Daneben entstanden in bestimmten Gattungen auch neue Kompositonen. Bei der Messe kamen zu den Hallelujas und Sequenzen weitere Ordinarium-Sätze, klangvoller ausgeschmückte Stücke wurden geschaffen. Im Psalter erschienen parallel zur wachsenden Zahl der Heiligen neue Gesangszyklen. Doch da man diese meist übernommen (importiert) hatte, dienten sie eher den lokalen spirituellen Ansprüchen. So ist denn in den liturgischen Büchern bei dem betreffenden Heiligen auch vermerkt: "Eigener Psalm - wenn er in deinem Buche steht."
Bücherkultur und Notenschrift
Etwa 30 vollständige Kodizes und mehrere hundert Fragmente blieben aus dem 14.-15. Jahrhundert erhalten. Sie deuten auf die reiche Schreibkultur der damaligen Zeit, von der sie nur ein Bruchteil darstellen. Die Mehrzahl der Handschriften besteht aus kleinformatigen, von nicht allzu hohen Ansprüchen, aber einer sicheren Notenschrift zeugenden sog. Handbüchern, die im nachfolgenden Zeitraum mehr und mehr von großformatigen Prunkkodizes abgelöst werden. Das 14. Jahrhundert ist die Blütezeit der ungarischen Notenschrift, repräsentiert durch das in Preßburg aufbewahrte Graner Missale notatum (Meßbuch mit Notation). Diese Handschrift "erweist sich nicht nur anhand ihrer Notation, sondern auch ihrer Liturgie-Ordnung und der Gesamtheit ihrer Melodienvarianten als verläßlichster Zeuge der zentralen ungarischen Tradition".
Doch neben der ungarischen taucht in den Randgebieten schon im 14. Jahrhundert auch "eine aus dem lothringschen Schrifttyp entwickelte, stark gegliederte, "gotisierte", aus großformatigen Elementen bestehende, moderne Notation auf, die sog. Metzer gotische Notenschrift". Mit diesem Typ der Notenschrift entstand Ende des Jahrhunderts z.B. das aus dem Oberland stammende Graduale, man findet ihn aber auch in den Preßburger Kodizes des 14. Jahrhunderts sowie in Kaschauer, Klausenburger und Kronstädter Handschriften. Daneben erscheint im nordwestlichen Landesgebiet die böhmische Notenschrift - Spuren ihres Einflusses zeigt beispielsweise die Notation des II. Graner Antifonale -, während die ungarische Notenschrift außer von den die Graner Traditionen bewahrenden Zentren vom Paulinerorden weitergegeben wird, wo man später sogar versucht, daraus eine großformatige Kodexschrift zu entwickeln.
Der Einfluß der Metzer gotischen Notation auf die ungarische Notenschrift läßt sich schon im 14. Jahrhundert nachweisen, und er wird im 15. Jahrhundert noch stärker. Die Veränderung der Notenschrift spiegelt zugleich eine Art inneren Wandel der Betrachtungsweise wider, denn mehr und mehr richtete man das Augenmerk auf einzelne Töne, die Zusammengehörigkeit einer Tongruppe (Neuma) hingegen lockerte sich etwas. Auch die Schriftrichtung wurde veränderte: Anstelle der nach unten verlaufenden Punktreihen in der rein ungarischen Notation ist diese Schrift, dem chronologischen Nacheinander gemäß, nach rechts geneigt. Diese Mischnotation kann als einheimische Schöpfung betrachtet werden, welche die klaren, exakten Tonzeichen der Metzer gotischen Notation sowie die Biegsamkeit und zeichnerische Linienführung der ungarischen Notenschrift in sich vereint. Anwendung fand sie vom ersten Drittel des 15. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts vor allem als Schreibweise für die großen, prächtigen Chorbücher. Daß gerade die zu den wichtigsten Repräsentanten der ungarischen Tradition gehörenden Kodizes (z.B. I. Graner Antifonale, Graduale von Futak) in dieser Schreibweise entstanden, zeigt ihre zentrale Bedeutung.
Die von der Wende des 14./15. Jahrhunderts stammenden Zeremonienbücher der Franziskaner und Dominikaner weichen inhaltlich und in ihrer Notenschrift von der oben geschilderten liturgischen Musiktradition in Ungarn ab. Ihre sog. quadratischen Notenformen entsprechen ebenso wie ihre diatonischen Melodienvarianten den ausländischen Vorbildern ihrer zentralisierten Orden. Im Gegensatz dazu wurden die vier Preßburger Antifonale aus dem 15. Jahrhundert zwar in der Metzer gotischen Notation geschrieben, folgen aber dennoch klar der traditionellen Graner Linie, die das ganze ungarische Mittelalter hindurch als Hauptlinie zählt.
Mittelalterliche Polyphonie
Gering im Vergleich zur Vielfalt der gregorianischen Kodizes ist die Zahl der Denkmäler mit polyphoner Musik. Mehrere Fragmente aus dem 14. Jahrhundert sowie eine die Polyphonie der Pauliner verbietende Konstitution bezeugen aber, daß sie durchaus praktiziert wurde. Vom Anfang des 15. Jahrhunderts stammt eine mehrere Sätze beinhaltende Quelle aus dem Oberland, das sog. Fragment der Sigismundzeit. Die Quellen des 14.-15. Jahrhunderts verbreiten weniger die modernen europäischen Musikstile, sondern mehr eine anonyme Art und Weise des Musizierens, die einige hundert Jahre früher weit verbreitet war und gepflegt wurde. Die eine oder andere dieser Techniken kannte man im Westen schon um die Jahrtausenwende. Als besondere, feierliche Vortragsweise galt zum Beispiel, wenn bei einem gregorianischen Stück die Solos klangvoller untermalt wurden (anfangs vermutlich mittels Improvisation). Grundprinzip bei der Komposition zwei- und dreistimmiger, auf Quarten und Quinten basierender Klänge ist die parallele und Gegenbewegung.
Außer den feierlichen Lesestücken dürfte auch die eine oder andere Trope oder - wie in einem Kodex der Franziskaner - das Halleluja der Messe auf diese Weise ausgeschmückt worden sein. Komponierte man die rhytmische Gegenstimme nicht zu einer liturgischen, sondern freien Melodie, ergab dies einen moderneren Klang, selbst wenn man dabei Intervalle benutzte, die im Grunde auf den alten (von Quarte-Quinte-Oktave ausgehenden) Prinzipien beruhten. Solche beschwingten, mehrstimmigen Kanzonen gehörten natürlich nicht zur liturgischen Musik im engeren Sinne, sondern trugen im Kreis gebildeter Kleriker eher zur Bereicherung des musikalischen Gesellschaftslebens bei. Die Umschreibung einer gregorianischen Melodie durch beweglichere Gegenstimmen hingegen war etwas, das schon genau in die Liturgie paßte, und auch dem "gelehrten" Kompositionsstil des Zeitalters näher kam.
Muttersprachliche Volksgesänge
Unser erster schriftlich überlieferter muttersprachlicher Gesang "Christus ist auferstanden..." war der beliebteste Ostergesang im mittelalterlichen Europa. Man kann ihn im Fragment der Sigismundzeit auf einem Blattrand lesen, und zwar in ungarischer, tschechischer, deutscher und polnischer Sprache (zum Osterfest sang man ihn vermutlich gemeinsam, aber jeder in seiner eigenen Sprache). Dieser Satz wurde ursprünglich entweder in die Sequenz Victimae pashali eingefügt oder in der Osternacht am Ende der Andacht, im Anschluß an das Auferstehungsspiel (Osterspiel), vom Volk angestimmt.
Als zweiten, ebenfalls frühen muttersprachlichen Gesang kann man das ungarischsprachige Te Deum betrachten. Obwohl er erst um 1500 im Peer-Kodex aufgezeichnet wurde, deutet alles darauf hin, daß dieser Gesang damals bereits sehr weite Verbreitung gefunden hatte und aller Wahrscheinlichkeit nach auch im 15. Jahrhundert schon gesungen wurde.
Außer dem Ostergesang und dem Te Deum verdient hier vielleicht noch der schon früher zitierte Weihnachtsgesang Erwähnung, der mit den Worten "Hirten der Herden" beginnt. Dies war einer der Rekordationsgesänge (Festgruß) der Schüler (in seinem Text findet sich ein Hinweis auf den "Friss-Palast" König Sigismunds). Und möglichwerweise gehörte zu jener Zeit auch der "An diesem Tag ist Christus auferstanden" beginnende Ostergesang schon zum Gesangsrepertoire des Volkes, denn sein lateinischer Text ist im Fragment der Sigismundzeit ebenfalls zu lesen. Wesentlich mannigfaltiger gestaltet sich die Geschichte des muttersprachlichen Volksgesanges erst in den nachfolgenden Jahrhunderten.
Epische Gesänge im Mittelalter
Notenaufzeichnungen unserer epischen Gesänge wurden nicht überliefert. Auch das Lied von Ladislaus dem Heiligen kennen wir lediglich aus einer Quelle des 16. Jahrhunderts, dem Peer-Kodex, wenngleich die Wurzeln seiner Melodie zweifellos ins Mittelalter zurückreichen. Im klagenden Stil der ungarischen Volksmusik wiederum bildeten sich Strophenformen heraus (gebunden an die Texte von Grabreden, Psalmen, Balladen und Klageliedern), welche im Mittelalter eine Art allgemein gebräuchlichen epischen Stil am Leben erhalten haben dürften, und denen man später in den Historiengesängen des 16.-17. Jahrhunderts wiederbegegnet.
Die Schichten der mittelalterlichen Volksmusik
Das im Mittelalter aufblühende reiche Brauchtum - einen wesentlichen Teil davon findet man heute als Volksbrauch wieder - hat sehr viele Melodien überliefert. Einige entwickelten sich zu regelrechten Zyklen, wie beispielsweise die Lieder zur Johannisnacht der Zoborgegend, deren alte Weisen kleinen Tonumfangs eindeutig mittelalterlichen Ursprungs sind. Die gemeinsamen Züge, die sowohl archaische Brauchmelodien als auch gregorianische Gesänge aufweisen, lassen sich nicht mit dem geradlinigen gegenseitigen Einfluß, sondern eher mit dem im Hintergrund verborgenen gemeinsamen Grundstock - der ähnlichen oder identischen musikalischen Denkweise - erklären. Ebenfalls im Mittelalter dürften die Hexachordmelodien in Dur enstanden sein, die zur Begleitung zeremonieller Kinderspiele (Fährmann, Umzug, Paarwechsel) dienten, sowie die Musik für dramatische Spiele (Krippenspiel) kultischer Männergesellschaften oder damaliger Gesangsvereine.
An die mittelalterliche Rekordation erinnern die von Jünglingen oder Kindern gesungenen Kantaten, und als mittelalterlich kann auch die Grundschicht des Gregorganges bezeichnet werden. Zu den grundlegenden akustischen Elementen mittelalterlicher Städte und Dörfer gehörten die Ausrufe der Nachtwächter ebenso wie das Rezitierenlernen von Gedichten in der Schule. Spuren des Letztgenannten findet man heute in den Reimen des siebenbürgischen Betlehemspiels und des Plätzchenaustragens zur Adventszeit.
Die früheste Gruppe unserer Balladen hat die ungarische Volksdichtung, wie Lajos Vargyas meint, im 14. Jahrhundert bereichert. Er fand dazu allerdings nur französische Parallelen, weshalb er annahm, daß der Einfluß durch Vermittlung wallonischer Siedler aus dieser Richtung zu uns gelangt ist.
Eine engere europäische Parallele läßt sich hingegen zu den ungarischen Männertänzen ziehen. Dem Rhythmus dieser Tänze entspricht in Westeuropa der Vagantentanz, und sehr wahrscheinlich ist mit diesen Tänzen das musikalische Material der mittelalterlichen Unterhalter, der Jukulatoren, auf uns gekommen. Mittelalterliche Tanzmusik dürften auch der Tanz der Betlehemer Hirten sowie die Sätze des Pfingsttanzes enthalten.
Schlußendlich zeugen Angaben vom Weiterleben des uralten Klagegesangs (z.B. Klage um Karl I.). Klanglich dürften die damaligen Klagegesänge im wesentlichen mit den heute bekannten übereingestimmt haben. Zu jener Zeit gewannen vermutlich Melodien mit großem Tonumfang das Übergewicht, und ebenso löste sich eine größere Zahl in Strophen gefaßter Volksliedtypen von der Form des Klagegesangs.
TANZGESCHICHTE
Ausblick nach Europa
Die einhundertfünfzig Jahre zwischen 1300 und 1450 brachten ganz Europa eine Blütezeit des sakralen Kunstschaffens, eine weitere Verselbständigung der höfischen Kunst sowie die wahre Entfaltung der urbanen Kultur. In Ungarn vollzog sich diese Entwicklung, da die Stadtentwicklung im Rückstand und die Zahl der zur Pflege der Ritterkultur geeigneten Aristorkatenhöfe gering war, in spezifisch osteuropäischer Art und Weise, hauptsächlich an den Königshof gebunden. Zur Zeit der drei großen Herrscherpersönlichkeiten - Karls I., Ludwigs I. und vor allem Sigismunds - wurde der ungarische Königshof zu einem beachteten Zentrum der Politik und Kultur, und das wiederum ermöglichte die Übernahme der schönsten europäischen Kunstformen. Will man sich von der zeitgenössischen Kultur als ganzes eine Meinung bilden, sollte man die Elemente der lokalen Kultur, die in den Quellen kaum Erwähnung finden, verstärkt berücksichtigen. Das gilt besonders für die Tanzkultur, mit der sich im Vergleich zur Musik, Literatur und bildenden Kunst wesentlich weniger Quellen beschäftigen.
Die Schriftdenkmäler der Tanzkultur
Was die Hinweise zur Tanzkultur des Zeitalters anbelangt, verdienen an erster Stelle die sprachhistorischen Denkmäler Beachtung. Mit der wachsenden Zahl ungarischsprachiger Quellen kommen immer mehr ungarische bzw. international gebräuchliche Wörter vor, die das Tanzen ausdrücken. 1350 erscheint als internationales Wanderwort erstmals das Wort Tanz in unseren Sprachdenkmälern. Dem zeitgenössischen europäischen Sprachgebrauch gemäß dürfte es die mit Instrumentalbegleitung vorgetragenen Paartänze bezeichnet haben. Aus dem Jahr 1405 stammt das Schlägler Vokabular, das dem Wort "tombás" (Unterhalter, Spielmann, Puppenspieler) drei lateinische Ausdrücke zuordnet: Cantatrix, Gestulator, Palpanist. Dies ist nicht etwa ein Zeichen für die Ungenauigkeit des Vokabulars, sondern es zeigt vielmehr, wie vielseitig die Tätigkeit dieser Unterhalter war. Mehrere zeitgenössische Quellen verwenden für den Begriff des Tanzens das Wort "toben", und zwar vermutlich im Sinne von Springtanz.
Himmlische und irdische Liebe
Als typisches Merkmal der europäischen Kultur des 14.-15. Jahrhunderts erlangt die höfische Kunst gegenüber der sakralen Kunst mehr und mehr Selbständigkeit. In der Sphäre des Tanzes wird dieser Prozeß von dem Verbot der als profan abgestempelten Tanzpraxis und gleichzeitigen Propagieren der idealisierten tänzerischen Symbole (Tanz Königs Davids, Tanz der Salome) begleitet. Von einigen Ausnahmefällen abgesehen war der Tanz damals nirgends mehr Teil der kirchlichen Zeremonien, und genoß demzufolge auch nicht dieselben Vorteile wie beispielsweise der religiöse Gesang oder die Dichtung. Kaum jemand befaßte sich damit, ihn zu einer selbständigen Kunst zu gestalten, schriftlich niederzulegen bzw. seine künstlerischen Formen in einen Kanon zu fassen.
Doch der Tanz, als eine der elementarsten Ausdrucksformen der europäischen Kultur, findet auch unter solchen Umständen seinen Platz, und trägt als wesentlicher Bestandteil der höfischen Kultur und ritterlichen Lebensweise reiche Früchte. Die das gesellschaftliche Leben bzw. die europäische Tanzkultur bis heute bestimmende Umgangs- und Bewegungsform bildete sich nach und nach heraus. Ihre Wiege ist die Provence des 12. Jahrhunderts, ihre Erzieher sind Italien und das 14. Jahrhundert, in Burgund reift sie im 15. Jahrhundert aus, und findet dann immer weitere Verbreitung. Ihre Anfänge stehen spürbar noch unter dem Einfluß der antiken griechischen und lateinischen Kultur sowie der späteren syrischen, althebräischen, arabischen und anderen orientalischen Kulturen. Auch die bei den Kreuzzügen gewonnenen Eindrücke tragen zu ihrer Ausformung bei.
Zu den wichtigsten Elementen ritterlicher Tugend gehörten im mittelalterlichen Europa neben der Achtung der Frauen und dem treuen Vasallendienst die Höflichkeit, Dienstfertigkeit, zurückhaltende Liebe, Geschicklichkeit, Selbstbeherrschung, der gute Geschmack und die Verläßlichkeit. Sie wurden beim Tanz durch die in feierlicher, straffer Haltung, mit gemessenen Bewegungen und in züchtiger, zurückhaltender Manier vorgetragenen Rundtänze verkörpert.
Die schönste Seite des Ritterlebens war der Minnedienst (Amor, Joi, Cortesia), ihn durfte in erster Linie die Herrin der Burg beanspruchen. Jeder Ritter hatte seine Auserwählte, die er begleitete, der er diente und deren Herz er besaß. Schauplatz des Minnedienstes, Garten der Liebe (cour d'amour), war die für das gesellige Leben geeignete Burg, wo sich die Ritter im Kreis der Herrin und ihrer Hofdamen durch Tänze und Lieder in den edlen Umgangsformen üben konnten. Typische Gestalten des Cour d'amour waren die Troubadoure, von denen die Kunst des Musizierens, Tanzens und Singens gleichermaßen gepflegt wurde. Sie trugen mit ihren Werken (Lobgesängen, Balladen), die sich häufig auch tänzerisch ausdrücken ließen, sowie mit Lustspielen, Spottliedern, Tadelgesängen oder Romanzen zur Unterhaltung der Anwesenden bei.
Unter der Herrschaft der Anjoukönige, vor allem aber König Sigismunds, eröffneten sich auch in Ungarn Möglichkeiten zu einer ähnlich glanzvollen Hofhaltung und ritterlichen Lebensform wie an westlichen Höfen, deren Schauplätze die königlichen Residenzen in Gran, Visegrád, Ofen und Diósgyõr waren. Die Reihe der von großem Pomp begleiteten Feste, Ritterturniere, Gelegenheiten zum Tanz bietenden Familienereignisse, der Krönungen, Friedensschlüsse, Gesandtenempfänge und diplomatischen Treffen riß nicht ab. Leider gehen die darüber berichtenden Augenzeugen, die offiziellen und privaten Briefe oder Bilanzen nicht gesondert auf den Tanz ein.
Erwähnung verdienen wegen ihrer ungarischen Bezüge die Runkelsteiner Fresken. Die Darstellung zeigt Königin Elisabet, die Mutter Ludwigs I., bei einem Schreittanz mit Herzog Meinhard von Bayern und den Mitgliedern seines Hofstaats. Dieser Tanz mag eine lokale Variante des langsame Schritte verwendenden, beliebten Schreittanzes (Hoftanz, Basse danse) gewesen sein, auf den dann vermutlich eine Art Springtanz - ein lebhafterer, mit pantominischen Elementen durchwobener Tanz - folgte.
In ähnlicher Weise dürfte man auch 1387 auf dem Fest im Anschluß an die Krönung König Sigismunds sowie anläßlich der großen Ofner Heerschau der europäischen Ritter im Jahr 1396 getanzt haben. Daß der Tanz für den Monarchen eine große Anziehungskraft besaß, wird übrigens von mehreren zeitgenössischen Quellen bestätigt. Einer Quelle zufolge warben der König und Herzog Friedrich 1411 in Innsbruck mit einem Tanzwettstreit um die Gunst eines Bürgermädchens. Eine andere Quelle erwähnt, daß er bei einem Bürgervergnügen in Augsburg noch 66jährig das Tanzbein geschwungen hat. Als er 1433 in Rom zum Kaiser gekrönt wurde, fanden glanzvolle Feierlichkeiten statt, und die ungarischen Mitglieder seines Gefolges waren bemüht, diese auf vielfältige Weise so denkwürdig wie möglich zu gestalten.
Darüber hinaus belegen mehrere Angaben, daß die Tracht, Instrumente und Tanzweise der Ungarn - offenbar, weil sie vom Gewohnten abwichen - im Kreis der Zeitgenossen beträchtliches Aufsehen erregten. Von János Hunyadi weiß man, daß sein Tanz allseits Beachtung fand, als er 1433-34 mit König Sigismund in Italien weilte. Die vornehmsten Damen wollten mit ihm tanzen und selbst der König beneidete ihn. Eine ähnliche Wirkung zeitigten die Wallfahrten der Ungarn nach Aachen, wo sie mit spektakulären Umzügen, Bären- und Straßentänzen Berühmtheit erlangten.
Im 14. Jahrhundert begann sich in der westlichen Hälfte Europas der Schauplatz des weltlichen Tanzlebens neben den Königshöfen auch auf die Städte auszudehnen, wo die städtische Bürgerschaft an mit öffentlichen Geldern betriebenen Tanzplätzen und unter strenger Bewachung der Stadtväter ihre eigenen und an den Fürstenhöfen erlernten Tänze tanzte. Das bezeugen unter anderem Darstellungen an florentinischen Brauttruhen vom Anfang des 15. Jahrhunderts, auf denen man vornehme Bürger bei instrumental begleiteten Schreittänzen sieht. Ähnliches zeigt die Szene auf dem Wandgemälde eines zeitgenössischen Bürgerhauses der Ofner Burg; hier folgt den Tänzern ein Narr in schellenbesetzter Kappe.
Profane Tänze
In Dantes Göttlicher Komödie (La Commedia) tanzen die himmlischen Chöre und Stände, die Heerscharen der Seligen, im Paradies den vornehmen Ruota und Gira, während sich die Verdammten in der Hölle im Rhythmus von Ridda und Tresca, also von bäuerlichen Tänzen, wiegen. Hier zeigt sich das Werturteil des Zeitalters über die verschiedenen neuen und herkömmlichen Tänze. (Auch in ungarischen Landen dürfte diese Auffassung bekannt gewesen sein, denn in der Bibliothek Ludwigs des Großen war Dantes Werk ebenfalls zu finden. Die lateinische Übersetzung der Göttlichen Komödie hatte der Übersetzer sogar König Sigismund gewidmet.) Trotz allgemeiner Verachtung und nicht selten auch des Verbots lebten die traditionellen Bauerntänze in Ungarn dennoch weiter. Die neuerlernten europäischen Bräuche gingen in ihnen auf.
Bis zum 15. Jahrhundert hatten sich auch bei uns die verschiedenen Faschings- oder Pfingstbräuche, das Entzünden des Johannisfeuers und die weihnachtlichen Gesänge eingebürgert. Dies waren neben den neuen Formen des Brauchtums im Zusammenhang mit Familienfesten und der Arbeit die Hauptanlässe zum Tanzen. Eine Aufzeichnung aus dem Jahr 1499 - hinter der sich vermutlich eine noch früher geübte Praxis verbirgt - erwähnt in der Predigt von Pelbart Temesvári den Fall der Frauen aus der Gegend des Kapos-Flusses. Sie hatten zur Faschingszeit als Masken verkleidet getanzt, und eine von ihnen wurde zur Strafe von einem Dämon aus dem Kreis der Tanzenden entführt. Anscheinend gab es in den traditionellen bäuerlichen Gemeinschaften damals noch kaum solche der Unterhaltung dienenden Tanzgelegenheiten, wie sie sich an den Fürstenhöfen und im Kreise der städtischen Bürgerschaft so häufig boten.
Ein die Gattungen unterscheidendes System der traditionellen Tänze, wie es für die heutigen Folkloretänze kennzeichnend ist, bildete sich im Laufe des Mittelalters nicht heraus. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß sich die Rahmen zweier Gattungen entfalteten: der hauptsächlich auf schreitenden Bewegungen basierende Gesellschaftstanz, ein Ketten- bzw. Rundtanz mit Gesang (der sowohl von Frauen oder Männern als auch in gemischter Form getanzt worden sein mag) sowie der mehr aus springenden, stampfenden, trampelnden Bewegungen bestehende Tanz, welcher ebenfalls in mannigfaltiger Form (als Solo-, Paar- oder Gruppentanz für Frauen, Männern bzw. in gemischter Form, mit oder ohne Beiwerk, mit oder ohne Masken) bestanden haben dürfte. Diese sich formenden Gattungen wurden von einem jeweils anderen rhythmischen, formsprachlichen und funktionellen Rahmen zusammengefaßt.