BILDENDE KUNST
Präromanik
Die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts
Mitte des 10. Jahrhunderts gab das landnehmende Ungartum - infolge seiner Ansiedlung im Karpatenbecken bzw. der bei den europäischen Feldzügen erlittenen Niederlagen - sein aus dem Osten mitgebrachtes nomadisches Erbe auf und gliederte sich in die Reihe der christlichen Staaten Europas ein. Einen nicht geringen Anteil daran hatte Fürst Géza, der die historische Notwendigkeit der Stunde erkannte und zum Christentum übertrat.
In diesen Zeitraum fiel der Ausbau des neuen Fürstensitzes Gran. Zu Gézas Zeit dürften auf dem Burgberg das erste Palastgebäude und auch der Turm der Burg entstanden sein, die den Verkehr der Straße und des Marktes kontrollierte. Das zweite bedeutende Zentrum wurde Stuhlweißenburg mit der Pfarrkirche St. Peter. Laut Überlieferung bestattete man darin auch Géza. Dieser Bau mit vierpaßförmigem Grundriß war vermutlich ein frühes Baptisterium. Dahinter stand eine länglich angeordnete Pfarrkirche, die bis heute nicht freigelegt wurde.
Gézas erfolgreiche Herrschaft schuf für seinen Sohn Stephan die Voraussetzungen, aus Ungarn einen Feudalstaat zu machen. Das System der Burgkomitate und die Organisation der Kirchenprovinzen entstanden. Aus den Gesetzbüchern Stephans ist bekannt, daß die königlichen Burgen wichtige Elemente beim Ausbau der Kirchenorganisation waren, deren Keime die von Archidiakonen geleiteten Taufkirchen der Königsburgen darstellten und auf deren Grundlage das verzweigte Netz der untergeordneten Kirchen bzw. Kapellen geschaffen wurde. Die Organisation der königlichen Güter bildete auch die Basis für die Herausbildung der Kirchenbezirke.
Charakteristischer Gebäudetyp der Sakralbauten dieser Zeit war die Rundkirche oder Rundkapelle. Man konnte ihn sowohl in den Königsburgen als auch in unmittelbarer Nähe der Paläste finden, und er war eng in die mitteleuropäischen Traditionen eingebunden. Noch im ausgehenden 10. Jahrhundert dürfte in Veszprém die St. Georgskapelle erbaut worden sein, neben der sich bald auch der Dom erhob.
Die Kunst im Zeitalter der Staatsgründung
Gegenständliches Material blieb aus der Zeit Stephans des Heiligen kaum erhalten, weshalb wir die zeitgenössische Kunst hauptsächlich aus den Schriftquellen, Legenden und später entstandenen Chroniken kennen. Als erstrangige Quellen gelten in dieser Hinsicht die Stephans-Legenden, deren Autoren besondere Sorgfalt darauf verwendeten, den König als Kirchengründer vorzustellen, der die von ihm gegründeten Dom- und Klosterkirchen regelmäßig besuchte. Neben ihm erscheint seine Gemahlin Gisela, eine Tochter des Bayernherzoges, die die Kirchen mit liturgischen Gewändern ausstattete.
In der Schatzkammer Stephans befanden sich vermutlich auch byzantinische Arbeiten, und seine Reliquiensammlung dürfte beträchtlich gewesen sein. Bei einem Bulgarienfeldzug, den er gemeinsam mit dem Kaiser von Byzanz führte, gelangte der König eine zeitlang in den Besitz der Reliquien des Ochrider Sankt Georgsklosters. In der Größeren Legende über Stephan den Heiligen finden sich Hinweise, daß der Herrscher seiner Stuhlweißenburger Basilika ein goldenes Ziborium, Kreuze und reiche Gewänder geschenkt hat.
Königin Gisela beschenkte die Kirchen ebenfalls mit Devotionalien. Auf das Grab ihrer 1006 verstorbenen Mutter ließ sie für das Regensburger Niedermünster das mit Edelsteinen besetzte, emaillierte sog. Giselakreuz anfertigen. An ihren Namen bindet die historische Überlieferung auch das liturgische Gewand, welches sie im Jahr 1031 der Liebfrauenkirche von Stuhlweißenburg schenkte und das später zum Krönungsumhang der ungarischen Könige umgearbeitet wurde. Auf dem das christliche Weltall darstellenden Kleidungsstück ist in der Mitte der thronende Christus, Maiestas Domini, im Kreise von Engeln, Propheten, Aposteln und Heiligen und in Gesellschaft des hl. Stephan und Giselas zu sehen.
Neben der höfischen, größtenteils aus Importen stammenden Kunst kam den das Bild des Landes wesentlich umformenden Sakralbauten große Bedeutung zu. Auf Stephan geht die Gründung der Stuhlweißenburger Marien- (Liebfrauen-) Kirche im Jahr 1019 zurück, die gleichzeitig mehrere Funktionen versah: Hier wurden die Krönungsinsignien aufbewahrt, sie war Begräbnisstätte, diente als Ort zur Erledigung von Staatsgeschäften und hier fand auch die große Zahl der Hofpriester Aufnahme. Die staatliche Rolle der königlichen Basilika zu Stuhlweißenburg war mindestens ebenso groß wie ihre kirchliche.
Leider blieben von der Kirche in Stuhlweißenburg nur die Grundmauern erhalten, bei denen man viele römische Werksteine sekundär verwendet hatte. Ihr Grundriß zeigt das hergebrachte basilikale Schema, mit rundbogigem Chor (Apsis) und drei Schiffen. Ursprünglich war sie wohl - nach italienischen oder byzantinischen Vorbildern - mit Mosaiken geschmückt, die jedoch mit Ausnahme einiger nicht interpretierbarer Stücke untergingen.
Weitere bedeutende Denkmäler stephanszeitlicher Gründungen sind der erste Dom von Kalocsa sowie der später erbaute Karlsburger Dom. Die Baugeschichte der im Jahr 1015 gegründeten Abtei Pécsvárad ist bis heute ungeklärt, und zahlreiche Probleme wirft auch die Kirche der Benediktinerabtei St. Adrian zu Zalavár auf, die nur von der Zeichnung eines Kriegsingenieurs aus dem 16. Jahrhundert bekannt ist.
Die ersten Kirchen des 11. Jahrhunderts dürften recht einfache, schmucklose Bauten gewesen sein. In der Mehrzahl waren es vermutlich Holzkirchen. Zu dieser Zeit erschienen in ganz Europa gerade einmal die Ansätze monumentaler Dekoration. Auch die überkommenen Fragmente zeugen eher davon, daß den dekorativen Steinmetzarbeiten mit nach strenger geometrischer Logik gestalteten Flechtmotiven und Tiergestaltendarstellungen (Zalavár) besonders bei der Innendekoration eine wichtige Rolle zukam.
Eines der bekanntesten Denkmäler des Jahrhunderts ist der Sarkophag Stephans des Heiligen. Er befindet sich im Stuhlweißenburger Ruinengarten. Die Seiten des aus einem römischen Sarkophag umgearbeiteten Sarges zieren symbolische Reliefs, die nach oberitalienischen bzw. byzantinischen Vorbildern entstanden. Die Denkmäler der stephanszeitlichen Kleinkunst fielen fast ausnahmslos der Vernichtung anheim. Erwähung verdienen unter den wenigen erhalten gebliebenen Werken der "Geldbeutel" Stephans des Heiligen und unter den Goldschmiedearbeiten das in Újszász gefundene goldene Korpus.
Das zweite Drittel des 11. Jahrhunderts
Das Wirken des Staatsgründers Stephan und sein Beispiel bestimmten auch die Zielsetzungen seiner Nachfolger. Zahlreiche zu seiner Zeit begonnene Bauten wurden erst Mitte des 11. Jahrhunderts beendet, und ebenso nahm man damals den Bau mehrerer Kathedralen in Angriff. Zur Gründung des St. Petersdomes in Fünfkirchen kam es wahrscheinlich unter König Peter. Sicher ist jedoch nur soviel, daß nach dem Brand des Jahres 1064 die Arbeiten zu seinem Wiederaufbau begannen. Peter gründete außerdem die Propstei St. Peter in Altofen, deren Bau sich lange Zeit hinzog. Und auch darin folgten Stephans Nachfolger seinem Beispiel im allgemeinen, daß sie noch zu ihren Lebzeiten danach trachteten, ein eigenes Kloster als Begräbnisstätte für sich und ihre Familien zu gründen.
Bis zur Zeit Kolomans, den man den Bücherfreund nannte, war es nicht Brauch, die Könige in Stuhlweißenburg zu bestatten. Im allgemeinen ließen sie sich in ihren Eigenkirchen beisetzen. Vermutlich zu diesem Zweck wurde auch die auf dem Gut des Geschlechtes Aba stehende Kirche von Feldebro gegründet. Die Kirche in Feldebro war ein von jeweils vier Pfeilerreihen gegliederter, an allen vier Seiten durch eine Apsis erweiterter, zentraler Raum mit quadratischem Grundriß und einer Krypta, die dem Alten Testament entnommene Fresken schmücken.
1061 gründete König Béla I. die Benediktiner-Klosterkirche in Szekszárd, deren Raumordnung der des entwickelten byzantinischen Kirchentyps mit Kreuzkuppel folgte. Ihr Chor schloß mit drei rundbogigen Apsiden, Haupt- und Querschiff hoben sich in Kreuzform heraus, die Ost- und Westabschnitte ihrer Seitenschiffe passen sich dem neunfach unterteilten byzantinschen Raumtyp an, und ihre vier starken Pfeiler trugen sicher ein Kuppel. Die Szekszárder Kirche nimmt als Denkmal eine Schlüsselstellung ein, weil von ihr auch architektonischer Gebäudeschmuck erhalten blieb, der ebenfalls künstlerische Beziehungen zu Byzanz verrät.
Charakteristikum der Steinmetzarbeiten des zusammenfassend Palmetten-Flechtbandornamentik genannten Stils ist, daß sie entschieden byzantinischer Prägung sind. Palmetten tauchen als Motive häufig an hervorgehobenen Stellen der zu jener Zeit erbauten Kirchen auf: an Kapitellen, Gesimsen, Kämpfern. In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts beginnt neben den Herrschern auch der Hochadel mit der Gründung von persönlichen Repräsentationszwecken dienenden Eigenkirchen. Um 1067 gründete Comes Peter aus dem Geschlecht Aba in Százd ein Kloster, und um 1061 Gespan Otto aus dem Geschlecht Gyor das Kloster Zseliczszentjakab.
Die byzantinischen Beziehungen traten jedoch nicht nur in der Gebäudeplastik in Erscheinung. Aus dieser Zeit wissen wir von vielen Kirchen bzw. Klöstern mit griechischem Ritual (z.B. Tihany, Visegrád). Es gab auch einen bedeutenden Import byzantinischer Goldschmiedearbeiten. Das beweisen die in Nyitraivánka zum Vorschein gelangte, zur Herrschaftszeit des Kaisers Konstantinos IX. Monomachos angefertigte Frauenkrone mit Zellenemail oder der für den unteren Teil der ungarischen hl. Krone verwendete Reif aus Zellenemail. Ebenso sind die im Benediktinerkloster von Dombó, im Süden des Landes, gefundenen Steinmetzarbeiten oder der Grabstein von Aracs Zeugen der kulturellen Kontakte zu Byzanz.
Romanik
Die erste Periode der Hochromanik
(Ende 11. Jahrhundert - Anfang 12. Jahrhundert)
Für die Architektur dieses Zeitraumes wird die mit drei rundbogigen Apsiden abschließende Basilika ohne Querschiff bestimmend, deren Innenraumraum auf Pfeiler gestützte Arkaden in drei Schiffe teilen und die im allgemeinen ein offener Dachstuhl bedeckt (Dom zu Waitzen, Benediktiner-Abteikirche Garamszentbenedek, Benediktiner-Abteikirche Somogyvár, Szentjobb, Kolozsmonostor).
Besondere Beachtung in der Reihe dieser Sakralbauten verdient die 1091 von König Ladislaus zu Ehren des hl. Egidius gegründete Kirche der Benediktinerabtei Somogyvár, und zwar nicht nur wegen ihrer architektonischen Schätze, sondern weil wir auch ihren Gründungsbrief kennen. Das Kloster unterstand der Abtei im französischen Saint-Gilles. Bis zum Anfang des 13. Jahrhunderts konnten hier nur Franzosen als Mönche eintreten, das Kloster wurde also auf dem Gebiet des Geisteslebens zu einem der frühesten Zentren der ungarisch-französischen Beziehungen. In dem nach lombardischen Mustern errichteten Komplex bestattete man 1095, seinem letzten Willen gemäß, auch Ladislaus. Und wahrscheinlich wurde dort, nachdem man den Leichnam des Königs nach Wardein gebracht hatte, insbesondere aber nach seiner Heiligsprechung im Jahr 1192, auch eine davon abgetrennte Reliquie verehrt.
Erwähnenswert in bezug auf die Bautätigkeit im ausgehenden 11. Jahrhundert ist noch der Umbau der Stuhlweißenburger Basilika, wahrscheinlich nach 1083, als Ladislaus I. König Stephan und dessen Sohn, Herzog Emmerich, kanonisieren ließ. Die Stadt, die als eine der Stationen auf dem Landweg nach Jerusalem auch früher schon Bedeutung besaß, wurde sehr bald zum Wallfahrtszentrum des Landes. Dabei erwies sich die Basilika wohl als zu eng, und das machte die Umbauten erforderlich, die sogar bis ins 12. Jahrhundert andauerten.
Eine Bautätigkeit ähnlich großer Tragweite war beim Neubau des 1064 abgebrannten St. Petersdomes in Fünfkirchen zu beobachten. In der dreiapsidal schließenden, dreischiffigen Kirche entstand unter dem Chorraum eine riesige, von Kreuzgewölben ohne Rippen bedeckte, durch Säulen mit Würfelkapitellen in fünf Schiffe gegliederte Krypta. Über ihr lag der die Priesterschaft des Doms aufnehmende Chor. Zwei figürliche Steinfragmente, die hier zum Vorschein kamen, zeigen typische Themen der romanischen Ikonographie: den Kampf des Guten gegen das Böse. Bereits im 12. Jahrhundert begann man auch mit dem Bau der um 1105 von Herzog Álmos gegründeten Kirche des Kollegiatsstifts St. Margareten in Dömös.
1137 wurde in Anwesenheit König Bélas II. und seines Hofes die Kirche der Benediktinerabtei Pannonhalma eingeweiht. Die Einzelheiten ihrer frühen Bauperioden konnten erst bei den archäologischen Freilegungen der letzten Jahre geklärt werden. Im gleichen Zeitraum nahm man auch in Gran großangelegte Bauarbeiten in Angriff. Die außergewöhnlich anspruchsvollen, mit neuen Motiven bereicherten figürlichen Dekorationen waren vermutlich das Werk der im nahegelegenen Dömös arbeitenden Steinmetzmeister. Ähnlich dekorative Lösungen finden sich auch an der Propsteikirche St. Peter in Altofen, an der dieselben antikisierenden Elemente wie in Gran auftauchen.
Die Gebäudeplastik der Mitte des 12. Jahrhunderts ist von großer Mannigfaltigkeit geprägt. Sie läßt sich vorwiegend auf die italienischen, hauptsächlich aber lombardischen, pavianischen und anderen norditalienischen Stilrichtungen zurückführen. Parallel zur Entwicklung der wichtigsten Zentren nahm die Bautätigkeit überall im Land immer größere Ausmaße an. Das System der Eigenkirchen, der Patronats- bzw. Geschlechterkirchen, bildete sich heraus, deren wesentliches architektonisches Element die Westempore wurde. Die Funktion dieser Emporen ist bislang noch ungeklärt. Den neuesten Forschungsergebnissen zufolge war sie nicht ausschließlich als Sonderplatz für den Patronatsherren der Kirche gedacht, sondern diente auch zum Aufstellen des Altares.
Bei den kleineren Patronats- und Dorfkirchen lassen sich zwei Grundtypen unterscheiden: Der erste Typ ist die sog. Rotunde oder zentrale, mit einer Apsis erweiterte Variante; der zweite, eine Mitte des 12. Jahrhunderts verbreitete Variante, die Gebäudeform mit quadratischem Grundriß und Flachdecke, die aus einem Schiff und der anschließenden, von einer Halbkuppel überwölbten Apsis bestand. Über wesentlich weniger Angaben verfügen wir in bezug auf die Wandmalerei und Bücherkultur dieser Zeit, von denen wir uns vor allem aufgrund der Schriftquellen, späteren Beschreibungen und Inventarverzeichnisse einen Begriff machen können.
Nur einige wenige Fragmente sind es, die die frühe Wandmalerei dokumentieren (beispielsweise in der Visegráder Dechantenkirche oder der Graner Königsburg). An den Fresken in der Kirche von Feldebro lassen sich neben den italienisch-byzantinischen Vorbildern die süddeutschen Einflüsse (Salzburg, Regensburg) ebenso deutlich erkennen, wie sie auch in der Apsis der Abteikirche von Pécsvárad und bei der ersten Ausmalung der Fünfkirchner Cella Trichoria in Erscheinung traten.
Eines der frühesten Denkmäler der Buchmalerei ist das vom Ende des 11. Jahrhunderts stammende, auch als Szelepcsényi- Evangelistarium bekannte, Zeremonienbuch von Neutra. Der in karolingischer Minuskelschrift verfaßte Kodex entstand zum Gebrauch für die ungarischen Benediktiner. Seinen Schmuck bilden neben den auf koloriertem Grund gezeichneten bzw. gemalten und durch eine rankenverzierte, stilisierte Vogelgestalt ergänzten Initialen rote, blaue und grüne Anfangsbuchstaben. Herausragende Bedeutung besitzt die einst im Kloster des Gespans Martin aus dem Geschlecht Gutkeled in Csatár aufbewahrte Bibel, die nach ihrem heutigen Verwahrungsort den Namen Admonter Bibel trägt. Dieses Meisterwerk der Buchmalerei der Salzburger Benediktiner ist im Nachlaßmaterial des Zeitalters nicht das einzige, man begegnet seinem Einfluß auch bei anderen Kodizes (z.B. Pray-Kodex).
Das relativ umfangreiche Nachlaßmaterial der zeitgenössichen Goldschmiedekunst wird von einigen als Grabbeigaben zum Vorschein gelangten Reliquiarkreuzen aus Bronze repräsentiert. Ein Großteil der Stücke des durch die Verbreitung der Urkundenpraxis erforderlich gewordenen Siegelgebrauchs hingegen hat die Zeiten nicht überdauert. Den meisten königlichen Siegeln war dieses Schicksal beschieden, und auch über die Siegel der hohen Kleriker, Kapitel und Konvente im mittelalterlichen Ungarn geben die Quellen nur wortkarge Auskünfte.
Die Blütezeit der Hochromanik (zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts)
Im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts änderte sich die Richtung des romanischen Stils in Ungarn entscheidend. Ursachen dafür waren unter anderem das Erstarken der königlichen Macht unter Béla III., die Verbreiterung der von Byzanz bis Paris reichenden kulturellen Beziehungen, die Ansiedlung neuer, in Frankreich beheimateter Orden, vor allem der Zisterzienser, und nicht zuletzt die erstarkte Finanzkraft des Landes und seiner nach Prunk und Repräsentation strebenden Führungsschichten. Zentrum dieser Entwicklung wurde der Graner Burgpalast. Wichtigste Denkmäler der Architektur aus der Zeit Bélas III. sind die Erweiterungen des St. Adalbertdoms und der königliche Burgpalast.
Nach dem großen Brand des Jahres 1188 war auch der erzbischöfliche Dom nicht mehr zu retten gewesen, so daß man ihn heute nur noch anhand einiger, in ihrer Art Meisterwerke darstellender Fragmente rekonstruieren kann. Ein solch bedeutsames Werk ist das Prunkportal, die Graner Porta Speciosa. Nach den wenigen erhalten gebliebenen Fragmenten sowie einer Ölgemäldekopie aus dem 18. Jahrhundert zu urteilen, erschien auf dem mit sog. Inkrustationstechnik gefertigten Fries zum erstenmal das sakrale Thema, wie König Stephan der Heilige in Begleitung von Aposteln und Propheten sein Land der Heiligen Jungfrau offeriert. Die Komposition der Szene ist eine Analogie zu dem Bogenfries am St. Annenportal der Pariser Notre Dame, und auch die rhytmische Prosa der Inschriften deutet auf den Kanzler des Königs, der in Frankreich studiert hatte.
Noch prägnanter traten die französischen Einflüsse bei der Gestaltung des Innenraumes der königlichen Burgkapelle, den inneren und äußeren Raumplastiken sowie ihrer gemalten Dekoration in Erscheinung. Béla III. wandte sich als erster unter seinen Zeitgenossen dem Pariser Hof zu, der damals im Westen als Musterbild für höfische Kunst und königliche Repräsentation galt. Der ungarische Monarch rief Meister aus Burgund oder der Champagne ins Land, die die Errungenschaften der Gegend um Paris gut kannten. Während jedoch seine Baukunst westliche Einflüsse verriet, war sein Malereiprogramm entschieden byzantinischer Prägung. Von der Ausmalung der Kapelle in Gran blieb zwar nur ein Vorhänge nachahmender Sockelfries erhalten, dies aber ist zweifellos eine gemalte Kopie pupurroter Brokate mit Löwenmustern.
Die zweite führende Werkstatt der Hochromanik entfaltete sich um den St. Petersdom in Fünfkirchen. Ende des 12. Jahrhunderts erlangte die Kirche ihre endgültige romanische Form, mit einem reich gegliederten Innenraum und zwei, vermutlich zuerst im Osten und dann im Westen erbauten Turmpaaren. Die Gestaltung der prächtigen Innendekoration läßt sich am besten an den Reliefzyklen der beiden zur Krypta führenden Treppenhäuser beobachten. Im nördlichen Treppenhaus sind die biblische Urahnen sowie sechs stehende Apostelfiguren zu sehen, während im südlichen die Geburt Jesu und seine Kindheit, darüber sein Leidensweg und darunter die Samson-Geschichte abgebildet wurden.
Den Meistern der Bildwerke waren die norditalienischen Aufarbeitungen dieser Themenkreise ohne Zweifel bekannt, doch auch die Rolle der französischen Vorbilder ist nicht ganz auszuschließen. Der Baldachin des vor der Westfassade der Fünfkirchner Krypta stehenden Heiligenkreuzaltars zeugt eindeutig von der Übernahme eines Dekorationsstils, der an den Kirchen in Pavia schon nach der Mitte des 12. Jahrhunderts auftauchte, und der sich dann in Windeseile in ganz Europa verbreitete. Zu dieser Gruppe gehören die Steinmetzarbeiten von Ercsi, die Apostelfigurenfragmente der Kathedrale zu Stuhlweißenburg, die sich an deren Ende des 12. Jahrhunderts erbautem Portal befanden, sowie die äußeren Relieftafeln der Benediktiner-Abteikirche in Somogyvár, auf denen die Halbgestalt Christi als Richter, die Gestalt eines Engels mit Kreuz bzw. ein Vogel Greif und ein Knabe, der einen Dorn entfernt, erkennen lassen.
Eine wichtige Rolle im Entwicklungsprozeß der ungarischen Kunst spielte Ende des 12. - Anfang des 13. Jahrhunderts der Import europäischer Kunstgegenstände. Besonders spürbar wird dies auf dem Gebiet der Goldschmiedekunst, aber auch die heute bereits spurlos untergegangenen Textilien und Tapisserien dürften sich unter den Importartikeln befunden haben. Auf dem Handelsweg gelangten aus den bedeutendsten Metallhandwerkszentren Sachsens, des Rheinlandes und der Maasgegend graviert verzierte Bronzeschalen, figürliche Handwaschgefäße (aquamanile), Weihrauchgefäße, Kreuze und Kerzenhalter nach Ungarn.
Die zweite große Denkmälergruppe der Goldschmiedekunst bildeten neben den westlichen Importen die aus Byzanz stammenden Gegenstände mit sog. Filigranschmuck: Beschläge und Gürtelverzierungen aus Gold, goldene Perlen und Anhänger. Ein bedeutender Fundkomplex dieser Art kam in den Königsgräbern von Stuhlweißenburg ans Licht, aber auch der Schaft und die Fassung des ungarischen Krönungszepters gehören zu dieser Gruppe.
Eine Vorstellung von den Königsbestattungen zur Zeit der Arpaden vermitteln die als Beigaben in den Stuhlweißenburger Gräbern Bélas III. und seiner Gemahlin, Anna von Antiochien, gefundenen Regalien aus Silber. Das Grabinventar bestand aus Krone, Zepter, Brustkreuz, Schwert, Sporen und Armring. Repräsentanten der zeitgenössischen Goldschmiedekunst sind weiters die Goldene Bulle Bélas III,. sein Fingerring sowie eine ebenfalls in Stuhlweißenburg zum Vorschein gelangte Zierscheibe mit Zellenemail.
Die Reformpolitik vom Ende des 12. Jahrhunderts wirkte sich nicht nur auf die staatliche Verwaltung aus, sondern kam auch bei der Ansiedlung neuer Orden zur Geltung. Neben dem bis dahin dominierenden Benediktinerorden erlangten Prämonstratenser und Zisterzienser immer mehr Bedeutung, die bald auch im Bereich der ungarischen Architektur und Bücherkultur eine grundlegend neue Anschauung, Ordnung und Liturgie vertraten. Die Zisterzienserklöster wurden, sowohl was die Anordnung der Klostergebäude als auch der Kirchen betraf, streng nach den verpflichtenden Ordensvorschriften und dem Muster der in Frankreich entwickelten Typen erbaut. Ihre Detaillösungen sind sehr mannigfaltig, für alle jedoch ist die frühgotisch geprägte Teilgliederung typisch, und ihre Kirchen sind so angeordnet, daß sich aus dem Querschiff Kapellen öffnen.
Zum wichtigsten Zentrum des bis ins erste Drittel des 13. Jahrunderts hineinreichenden Bauschaffens der Zisterzienser wurde das Kloster in Pilis (heute Pilisszentkereszt). Die der Heiligen Jungfrau geweihte Zisterzienserabtei hatte Béla III. im Jahr 1184 gegründet. Erst bei jüngst durchgeführten Grabungen stieß man auf Gebäudereste des im Laufe der Türkenkriege zerstörten Klosters. Die Freilegung der Kirche mit traditionellem Grundriß und des Klosterkomplexes verdient nicht allein wegen der reichen, phantasievollen Gebäudeplastik mit Tiergestalten und Pflanzenornamentik Beachtung, sondern auch deshalb, weil man hier die der Meraner Linie entstammende Gemahlin König Andreas II. bestattete. Den zum Vorschein gelangten Fragmenten zufolge dürfte das Grabmal Königin Gertruds in den 1230er Jahren entstanden sein. Es läßt sich ebenfalls an die französische Kunst, und zwar an die Reimser Steinmetzwerkstatt, binden.
Das andere wichtige, bereits weltlich-kirchliche Zentrum zu Beginn des 13. Jahrhunderts ist der zweite Dom in Kalocsa. Der Erzbischof von Kalocsa, der damals mit dem Graner Erzbischof um die Vormachtsstellung kämpfte, wollte seine Ansprüche wohl auch dadurch zum Ausdruck bringen, daß er seine Kirche nach dem Muster der gotischen Kathedralen Frankreichs erbauen ließ: in der Anordnung mit umgehbarem Chor und mit einem Kranz von Kapellen umgeben. Damit wurde Kalocsa zu einem wichtigen Zentrum der Baukunst im Zwischentromgebiet von Donau und Theiß. Der Königskopf von Kalocsa hat vermutlich zum Schmuck des Hauptportals gehört.
Die Werkstatt in Kalocsa dürfte auch die an den Bauvorhaben des Königs in Gran aufgetauchten neuen Stilelemente weitervermittelt haben, die beim Bau der Prämonstratenser-Propsteien von Ócsa und Jánoshida sowie der Benediktierabtei in Aracs Anwendung fanden. Und dieselben Stilelemente kamen beim Skulpturenschmuck der Benediktiner-Abteikirche von Vértesszentkereszt zur Geltung. Die achteckigen Pfeiler des Kirchenschiffs beschlossen Tierfigurenfriese, aus den Laibungen der Kirchenportale traten die Gestalten von Propheten hervor.
Die Spätromanik
Am entscheidendsten hat das architektonische Antlitz der Kunst des 13. Jahrhunderts die Verbreitung der Geschlechterklöster geprägt. Für die Gebäude jener Zeit wurde eine immer reichere Bauplastik kennzeichnend. Die eindrucksvollen, durch einen Turm oder Turmpaare betonten Fassaden zeigten mehr Vielfalt als je zuvor, und im Inneren der Kirchen war meist auch eine Empore zu finden. Die kleineren Patronatskirchen richteten sich immer häufiger an den Familienklöstern der reichen Geschlechter aus, und dieselbe Erscheinung läßt sich auch bei den Kirchenbauten in Dörfern beobachten.
Im Laufe des behandelten Zeitraums verstärkte sich die Rolle der Bettelorden (Franziskaner, Dominikaner). Die von ihnen erbauten Kirchen und Klöster standen im allgemeinen am Rande der Stadt, nahe der Stadtmauern. Diese mit großer Kraft vorangetriebene Umgestaltung konnte auch der Mongoleneinfall nicht ganz unterbrechen. Der Wiederaufbau des von den Mongolen verwüsteten Landes löste eine neue Ansiedlungswelle aus, und in deren Gefolge eine rege Bautätigkeit. Unter solchen Bedingungen entwickelte sich die Kunst der Spätromanik, deren Effektivität und Intensität noch heute in Staunen versetzen. Damals nahm man den Bau der Kirchen in Lébény, Karlsburg, Zsámbék bzw. Türje in Angriff, und das wiederum deutet auf das Schaffen einer Steinmetzwerkstatt mit zahlreicher Belegschaft hin.
Hochbedeutend für ihre Umgebung war die Abteikirche von Ják. Hier kamen sowohl in der architektonischen Gliederung als auch bei den am Gebäude platzierten Skulpturen süddeutsche Stilmerkmale zur Geltung. Die 1256 eingeweihte Kirche in Ják steht vor allem zu den Denkmälern auf österreichischem Gebiet in enger Verwandtschaft. Dem Jáker Beispiel folgten, insbesondere was ihre Portale und äußere Gliederung anbelangt, auch zahlreiche kleinere Kirchen in Transdanubien: Csempeszkopács, Magyarszecsod, Öriszentpéter, Kéttornyúlak. Ein ähnlicher lokaler Meisterkreis war in der Umgebung des Balaton tätig, wo die Detaillösungen der Kirchen in Litér und Felsoors von der Existenz einer größeren Werkstatt zeugen.
Die intensivste Bautätigkeit der Epoche läßt sich ohne Zweifel an Pannonhalma, an den 1224, zur Zeit des Abtes Orosch, begonnenen Bau der dritten Abteikirche binden. Das von frühgotischen Einflüssen kündende Kircheninnere folgte ebenfalls den österreichischen, böhmischen und mährischen Stilrichtungen, deren Spuren man darüber hinaus auch an den Überresten der Veszprémer St. Georgskapelle, später an den Details der als Doppelkapelle des Königinnenpalastes errichteten Giselakapelle, am markantesten aber an der Gebäudeplastik des Prämonstratenserklosters von Zsámbék entdecken kann. Zur gleichen Zeit sind an den Bauten des Zisterzienserordens (Bélapátfalva, Kerz) Tendenzen zu beobachten, die sich dem Architekturstil der klassischen Gotik nähern.
Gewaltige Aufgaben galt es nach dem Mongolensturm auch auf dem Gebiet der weltlichen Bautätigkeit zu lösen. Die früheren Burgen oder Herrensitze mußten besser befestigt werden. Zwar brachten Freilegungen der um diese Zeit neu gebauten oder befestigten Burgen bzw. Wohntürme (Visegrád, Kisnána) nicht allzu viele kunsthistorisch verwertbare Details ans Licht, Tatsache ist jedoch, daß sie beim Aufbau des Landes eine unschätzbare Rolle gespielt haben.
Eine spezifische Erscheinung in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ist die an Patronatskirchen auftauchende Plastik mit unikaler Ikonographie. Beobachtet werden kann sie insbesondere an Portaltympanons, auf denen man entweder Darstellungen der Stifter (Donatoren) oder den als allgemein zu nennenden Kompositionen des Agnus Dei (Lamm Gottes) begegnet (Szentkirály, Sopronhorpács, Ják, Bátmonostor).
Von Bestrebungen ähnlicher Art künden auch die auf unsere Zeit überkommenen Denkmäler der Wandmalerei; sie folgen teils byzantinischen, teils süddeutschen Vorbildern bzw. Mustern (Hidegség, Szalonka, Dejte, Süvete).
Die Werke der Kleinkunst, besonders der Goldschmiedekunst, waren Zeugen des seit Béla III. ununterbrochenen Einströmens westeuropäischer Einflüsse. Aus dem französischen Limoges beispielsweise gelangten, wie einige Jahrzehnte vorher von deutschem Boden, emailliert und graviert verzierte Devotionalien nach Ungarn.
Gotik
Der klassische gotische Stil in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts
Im dritten Viertel des 13. Jahrhunderts sind die Spuren der gotischen Kunst, die in Westeuropa schon lange zum gewohnten Bild gehörte und gerade ihre Blütezeit erlebte, wiederum zuerst in der Architektur zu entdecken. Diesen Einflüssen begegnet man bei den Bauarbeiten an der Liebfrauenkirche in Ofen, aber auch an der Maria Magdalenenkirche oder dem Kloster und der Kirche der Dominikanernonnen auf der Margareteninsel, an der Kirche und dem Ordenshaus der Ödenburger Franziskaner sowie beim Neubau des Karlsburger Doms lassen sich diese Tendenzen beobachten.
Natürlich fiel den in der Architektur deutlich zu verfolgenden Stilrichtungen in anderen Zweigen der Kunst ebenfalls eine Rolle zu. Das neue Antlitz, das für die Bautätigkeit auf der Margareteninsel kennzeichnend war, schlug sich auch im Goldschmiedehandwerk nieder. Beweis dafür ist der aus dem dritten Viertel des 13. Jahrhunderts stammende, mit kleinen Sträußen aus Bernsteinblättern geschmückte Reif einer Frauenkrone, die im Grab Stephans V. ans Licht kam.
Das zu den Krönungsinsignien gehörende Schwurkreuz, dessen in Lilien endende Balken mit Edelsteinen und echten Perlen besetzt sind, kann in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts datiert werden. An ihm verschmilzt die ältere Tradition der byzantinischen Filigranarbeiten mit den Stilen der gotischen Goldschmiedekunst Nordfrankreichs und des Rheinlandes.
Ende des 13. Jahrhunderts wuchs die Bedeutung von Importgegenständen. Ein solcher Import war beispielsweise das an den letzten König der Arpadendynastie zu bindende, in Venedig gefertigte sog. Berner Diptychon, wo neben den Heiligen vorwiegend venezianischer Herkunft zum erstenmal auch Darstellungen der ungarischen Heiligen (Stephan, Emmerich, Ladislaus und Elisabet ) erschienen: auf kleinen, auf Pergament gemalten Bildchen, die noch keine selbständigen, individualisierenden Merkmale aufwiesen. Ein Wandel vollzog sich aber auch in der Buchmalerei und Siegelmacherkunst - nun schon im Geiste des klassischen gotischen Stils und der Ikonographie.
MUSIK
Liturgische und musikalische Fundierung
Nach dem Tod König Stephans geriet die bis dahin geradlinige und ungebrochene Entwicklung scheinbar ins Stocken. Indes bestanden die wichtigsten Bistümer bereits, und die institutionelle Fundierung des geistig-religiösen Lebens (das Netz der Bistümer und Pfarreien, das Schulsystem der Klöster und Kapitel) sicherte ihre Kontinuität und half über die wirren Zeiten der Heidenaufstände hinweg. Während in der ersten Hälfte des Jahrhunderts - zur Zeit der Bekehrung und des organisatorischen Aufbaus der Kirche - das liturgische und musikalische Leben in Ungarn von Vielfalt gekennzeichnet war (was mit der Arbeit der aus verschiedenen Gegenden eintreffenden Missonare zusammenhing), gestaltet sich dieses Bild in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts einheitlicher und die führende Rolle Grans tritt immer deutlicher hervor.
Die neu entstehenden Bistümer - wie auch das von König Ladislaus in Agram gegründete - erbitten sich aus Gran liturgische Bücher, womit sie zugleich dessen tonangebende, leitende Rolle anerkennen. Auch die 1083 stattfindenden Kanonisierungen (Stephan, Emmerich, Gerhard) tragen zur Festigung des liturgischen Gesangsmaterials bei, mußten dafür doch neue musikalische Stücke geschaffen oder die alten angewendet werden.
Die obige Tendenz zeichnet Anfang des 12. Jahrhunderts die Grundzüge der liturgisch-musikalischen Tradition Ungarns im wesentlichen bereits vor, und irgendwann in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts erreicht sie dann ihr Ziel. "Damals steht Gran vielleicht auf dem Gipfel seines Ansehens; es wird von hochgebildeten, charakterfesten Erzbischöfen gelenkt; auch seine Priesterschaft ist wohlgebildet, viele von ihnen haben an französischen und italienischen Schulen ihren Gesichtskreis zu einem über die deutschen Grenzen hinausblickenden, »lateinischen« Horizont erweitert ... Wir sind in der Zeit der Herrschaft Gézas II. und Bélas III". Um diese Zeit, unter dem Episkopat des Lukas von Bánffy, dürfte die Graner Reform des liturgischen Gesanges vorsichgegangen sein, die über das gesangliche Repertoire ("was soll gesungen werden"), den Aufbau des Offizium ("nach welcher Ordnung soll gesungen werden") und schließlich auch über die Variationen ("welche der Melodienvarianten soll gesungen werden") entschied. Danach konnte dann mit Recht von einem "ungarischen Gregorianum" gesprochen werden, insbesondere da man im Zusammenhang mit der Reform vermutlich auch eine Auswahl unter den Zeichen der ungarischen Notenschrift getroffen hatte.
Ungarische Notenquellen und Notenschrift
Vom Ende des 11. Jahrhunderts blieben drei Zeremonienbücher mit Noteneintragungen erhalten (Graner Benedictionale, Sacramentarium der hl. Margarete, Agenda des Raaber Bischofs Hartwick). Die darin befindlichen Tonzeichen sind verschiedene Varianten der deutschen Neumaschrift, die noch keine genaue Tonhöhe angeben, sondern lediglich dazu dienen, sich die bekannten Melodien ins Gedächtnis zu rufen. Mit dem gleichen Schrifttyp entstand zu Beginn des 12. Jahrhunderts (wahrscheinlich in Karlsburg) das erste Choroffizium, der Kodex Albensis, welcher allerdings sowohl in seinem Material als auch seiner Anordnung bereits eine gewisse Konsolidierung des ungarischen Gregorianums zeigt.
Schon die Hartwick-Agenda bzw. der Kodex Albensis beinhalten zwei europaweit bekannte und beliebte dramatische Spiele: das Sternenspiel (Tractus stellae) zum Dreikönigsfest und das österliche Auferstehungsspiel (Quem quaeritis...). Die Anfänge solcher dramatischen Schauspiele (dichterisch-musikalische Einlagen im Liturgietext) reichen bis in die Tropen zurück. Meist schob man diese zu dramatischen Dialogspielen geformten biblischen Erzählungen am Ende der mitternächtlichen Gebetsstunde in die Zeremonie ein. Im Brauchtum des ungarischen Volkes gibt es sowohl zum Sternen- als auch zum Osterspiel entsprechende Parallelen: das Steigenlassen von Sternen bzw. die Suche nach Jesus am Ostermorgen.
Nur wenige Jahrzehnte jünger als der Kodex Albensis ist der auch die Grabrede und Fürbitte enthaltende Pray-Kodex. Seine vom Ende des 12. bzw. Anfang des 13. Jahrhunderts stammenden Tonzeichen sind bereits auf Linien geschriebene, ablesbare Noten. Das Besondere an diesen ersten erhalten gebliebenen Denkmälern der ungarischen Notenschrift ist, daß sie von der deutschen Neumaschrift die fortlaufende Linienführung, von der französischen bzw. italienischen Notenaufzeichnung aber die Möglichkeit zur exakten Angabe der Tonhöhe überehmen und zu einer neuen, kompakten Schriftart vereinen. Ein solches systematisches Neudenken der verschiedenen Einflüsse kann kein Zufall gewesen sein. Vielmehr hing es wohl mit der oben erwähnten liturgischen Reform zusammen und wurde sogar gleichzeitig mit ihr verwirklicht.
Neue musikalische Einflüsse
Ob das ungarische Musikleben zur Zeit Bélas III. mit der europäischen Entwicklung Schritt gehalten hat, dazu liegen keine konkreten historischen Angaben vor. Jedenfalls sandte der König den Kleriker seines Hofes, Elvinus, nach Paris, damit er dort den neuen Stil des liturgischen Gesanges studieren und ihn nach Ungarn verpflanzen möge. Dieser neue Stil eröffnete eine neue Epoche der im Augustinerkloster bei Paris aufblühenden, mit dem Namen des Adam von St. Viktor verbundenen Sequenzdichtung. Ihren Einfluß spiegeln die Sätze des nach 1192 in Wardein komponierten Offizium Ladislaus des Heiligen wider, insbesondere die Hymne des Offizium und die Sequenz der Messe. Das 13. Jarhundert ist aber auch die Zeit, als die Offizien der ungarischen Heiligen, ihnen zu Ehren komponierte Gesangszyklen, vervollständigt wurden. Für das Offizium des hl. Emmerich schrieb ein unbekannter Dichter-Komponist einige Sätze der von deutschem Boden stammenden Gesänge zu Ehren der hl. Elisabet aus dem Arpadenhaus um, während man das Offizium König Stephans um 1280 zu einem Zyklus vervollständigte.
Vermutlich wegen des stürmischen Verlaufs der Geschichte blieb aus dieser Zeit außer einigen Fragmenten keine vollständige Notenquelle erhalten. Eine Ausnahme bildet das Mitte des Jahrhunderts in Agram entstandene - heute in Güssingen aufbewahrte - arpadenzeitliche Missale Notatum (mit Notenzeichen versehenes Meßbuch), welches zugleich eines der ersten Zeugnisse des vom Graner etwas abweichenden Rituals der im 12. Jahrhundert gegründeten Erzdiözese Kalocsa-Bács darstellt.
Musikleben im Kloster
Die ersten Missionare aus dem Westen hatten gewiß auch mit Notation versehene liturgische Bücher im Gepäck, als sie nach Ungarn kamen. (Das Inventarverzeichnis der Bibliothek Pannonhalma beispielsweise zählt Ende des 11. Jahrhunderts mehrere Zeremonienbücher mit Noten auf.) Im allgemeinen gestaltete sich das liturgische Musikleben in den Klöstern - von wenigen Ausnahmen abgesehen - nach den liturgischen Gebräuchen und der musikalischen Praxis des westeuropäischen Mutterklosters der Orden. Doch in einigen Fällen - so z. B. bei den Benediktinern, die in der ersten Bekehrungswelle eine bedeutende Rolle spielten - dürfte es auch vorgekommen sein, daß sich die klösterlichen Musikbräuche in gewisser Hinsicht der heimischen Praxis anpaßten (vermutlich um den Zeitraum der Missionstätigkeit abzukürzen). Sogar zwei der in Ungarn erhaltenen frühen Notenquellen gehen auf die Benediktiner zurück (Sacramentarium der hl. Margarete, Pray-Kodex), im Gegensatz dazu ist von den im 12. Jahrhundert mit königlichem Beistand angesiedelten Zisterziensern und Prämonstratensern kein einziges musikhistorisches Denkmal überliefert.
Sowohl die Benediktiner als auch die beiden Bettelorden des 13. Jahrhunderts, Franziskaner und Dominikaner, befolgten wahrscheinlich mehr oder weniger das Muster ihrer Zentren in Westeuropa, wodurch sie zu Inseln der musikalischen Bildung wurden. Das spiegelt auch ihre von der zeichnerischen Notation in Ungarn wesentlich abweichende, andere Typen von Zeichen verwendende Notenschrift wider - beispielsweise die sog. quadratische Schrift der Dominikaner und Franziskaner. Doch gleichzeitig übten sie auf das geistige Leben Ungarns bedeutenden Einfluß aus: Die Franziskaner durch ihre ausgedehnte seelsorgerische Tätigkeit (sie sind es auch, die in den folgenden Jahrhunderten den muttersprachlichen Gesang verbreiten), während sich die Dominikaner mehr auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Bildung hervortaten, und zwar durch die Gründung ihrer Hochschule in Ofen und das System der ausländischen Studienreisen.
Im Jahr 1270 trat der Heilige des Dominikanerordens, Thomas von Aquino, der sich ein großes Wissen angeeignet und die Summe der mittelalterlichen Theologie niedergeschrieben hatte, beim Papst dafür ein, dem Graner Domherren Eusebius die Gründung des nach dem heiligen Eremiten Paulus benannten Paulinerordens zu gestatten (der als einziger in der Geschichte der Orden von Ungarn gegründet wurde). Die Pauliner übernahmen die in Gran gebräuchliche Liturgie bzw. Melodienvarianten und bewahrten diese getreu - als "Zeichen" des Ordens - bis zum Ende des Mittelalters, wie auch Gran selbst.
Die Dominikaner betätigten sich daneben als Seelsorger der Nonnenklöster und Vereinigungen alleinstehender Witwen, der sog. Beginen. Aus diesem Kontext stammt jene - vielleicht zur seelsorgerischen Betreuung der Beginen entstandene - Handschrift vom Ende des 13. Jahrhunderts, in der auch die Altungarische Marienklage zu finden ist. Während die hundert Jahre ältere Grabrede und Fürbitte die ersten Ansätze der künstlerischen ungarischen Prosa enthält, verkörpert die Marienklage die Anfänge der Lyrik. Bis heute ist umstritten, ob es sich dabei um ein zum Singen bestimmtes dichterisches Werk handelt oder lediglich um eine Übersetzung zwecks besserem Verständnis. Die lateinische Originalvorlage der Verse unter dem Titel Planctus ante nescia wurde vom Dichter der Abtei St. Viktor bei Paris, Gottfrid von St. Viktor (Geoffroi, † um 1194), verfaßt.
Das lateinische Planctus erwächst, sowohl was seine Sprache, lyrische Form als auch den musikalischen Aufbau anbelangt, aus der Sequenz-Literatur in St. Viktor und erfreut sich in ganz Europa großer Beliebtheit: es wird nach verschiedenen Melodien gesungen. Der ungarische Text stellt eine annähernd auf die Hälfte gekürzte, wunderbar geraffte, umgedichtete Variante dar, "die man mit Recht für eine ausgezeichnete Übersetzung und zugleich für eines der schönsten ersten ungarischen Gedichte halten darf. Es ist eine würdige Eröffnung für die über Jahrhunderte hinweg überreich fließende ungarische Lyrik...".
Weltliches Musikleben und Volksmusik
Neben Kirchenmusik wird es im Mittelalter selbstverständlich auch einen reichen Fundus an weltlicher und Volksmusik gegeben haben, auf den sich aus schriftlichen Dokumenten und den Ergebnissen der vergleichenden Volksmusikkunde jedoch nur indirekt Rückschlüsse ziehen lassen. Eine der bekannten Geschichten trug sich zu, als Bischof Gerhard mit seinem Begleiter Walther auf Reisen war: Eines nachts hörte er ein Dienstmädchen singen, während sie ihre Handmühle betrieb. Der Bischof nannte dies scherzhaft, mit wissenschaftlichem Terminus, Symphonia Hungarorum, also Symphonie der Ungarn (wobei er unter Symphonie hier das ursprüngliche griechische Wort Zusammenklang verstand).
Aus der Feder des namenlosen Chronisten Anonymus weiß man von den Spielleuten, die epische Gesänge rezitierten. Sie waren im Kreis des Volkes ebenso gern gesehen wie bei den Festgelagen des königlichen Hofes. Den repräsentativen Glanz des Königshofes erhöhten aber auch die Instrumentalmusiker (Blas- und Schlaginstrumente) sowie berühmte Troubadoure bzw. Minnesänger (Gaucelm Faidit, Peire Vidal, Neidhardt von Reuenthal, Walther von der Vogelweide), die hier zu Gast weilten.
In der ungarischen Volksmusik herrschten noch immer die im vorangehenden Zeitraum behandelten Stile vor und erfuhren weitere Bereicherung. Die reichsten Legenden-Varianten beispielsweise - von denen einige schon als wirkliche Zyklen zu bezeichnen sind - können in die Arpadenzeit datiert werden. Sie lassen die Gestalt des ersten Märtyrers Stephan mit der König Stephans des Heiligen verschmelzen. Im Mittelalter dürfte auch die Umwandlung der bis dahin rezitativen Stile zu liedartigen Strophen, wie die aus den Klageliedern entspringenden, bzw. die Entfaltung der psalmodischen Variantenzweige begonnen haben. (Ein Beispiel dafür ist die aus der Umgebung von Kronstadt stammende, in Strophen gefaßte Marienklage.) Die sich festigende Siedlungsstruktur einerseits und die Begegnung mit der Musik der Nachbarvölker andererseits trugen zur Bereicherung der Volksbräuchekultur bei: In einigen Fällen gibt es konkrete europäische Parallelen zu den traditionellen Weisen der ungarischen Volkbräuche.
Zu einem Lied, das man in Ungarn bei Hochzeitsfesten zu singen pflegt - Schlaf nicht ein... -, zitiert Kodály beispielsweise eine spanische Melodie aus dem 13. Jarhundert (beides sind Brauchmelodien, Morgenlieder, mit denen Troubadoure ihre Geliebten wachsingen). Ein anderer ungarischer Hochzeitsgesang (über Berg und Tal bin ich gegangen) hat eine noch näherliegende Parallele, und zwar im Conductus, dem Begleitgesang eines Zuges (Solvitur in libro Salomonis...), eines französischen liturgischen Dramas (dem sog. Daniel-Spiel) aus dem 12. Jahrhundert. "Hinter all diesen Hochzeits- bzw. Vermählungsweisen, aber auch hinter anderen, mit letzteren im Zusammenhang stehenden Melodien der Johannisnacht vermuten wir einen solch frühmittelalterlichen europäischen Hintergrund." Ihre Blütezeit kann jedoch eher schon ins Spätmittelalter gesetzt werden. (Die Zitate sind dem Buch "Ungarische Musikgeschichte" von László Dobszay entnommen.)
TANZ
Über die Tanzkunst der Arpadenzeit
Nur eine geringe, wenn auch sehr vielfältige, Zahl von in- und ausländischen Quellen berichtet in sehr knappen Worten über die Erscheinungsformen der Tanzes zur Arpadenzeit. Um sich besser unter ihnen orientieren zu können, rufen wir die von der Musikgeschichte verwendeten Begriffe zu Hilfe. Die Ausdrücke musica sacra, musica aulica, musica bellica und musica profana deuten auf jene Gebiete der mittelalterlichen Kultur, in denen der Musik eine besondere Rolle zukam. Der Tanz rangierte, was seine gesellschaftliche Position bzw. die Ausarbeitung der Gattung und Formen betraf, zu damaliger Zeit noch hinter der Musik. Dennoch meinen wir, daß die Begriffe sakraler Tanz, Hoftanz, Kriegstanz und profaner Tanz - aufgrund der engen Beziehung zwischen Musik und Tanzkunst - geeignet sind, die gemeinsamen Züge der Erscheinungsformen des zeitgenössischen Tanzes darstellen zu können.
Sakrale Tänze
In den frühen Jahrhunderten des Christentums war es noch allgemeiner Brauch, an heiligen Orten (in Kirchen, auf dem Friedhof, an Grabmälern von Heiligen) zu tanzen. Dem römischen Kirchenautor Tertullianus zufolge trugen z.B. die Christen an der Wende 2./3. Jahrhundert ihre Kantaten und Hymnen von Tänzen begleitet in der Kirche vor. Die in der Bibel vorkommenden Tanzszenen wandelten sich mit der Zeit zum Thema sakraler Tänze, ihre Darstellungen auf sakralen Gegenständen wurden zu beredten Symbolen. Ähnlich wie Musik und Dichtkunst war der Tanz für den Christenmenschen ein Mittel, sich Gott zu nähern. Laut allgemeiner Auffassung ist Tanzen die heilige Beschäftigung der Engel, und auch die sündigen Seelen büßen ihre Sünden in der Hölle in einem extatischen Tanz.
Im Laufe der Zeit sah die Kirche in den Ritualtänzen der neu getauften Völker eine immer größere Gefahr. Anfangs räumte man ihnen in der gottesdienstlichen Ordnung, am Vorabend von Feiertagen und bei den damit verbundenen Zeremonien, zwar noch einen Platz ein. Man hielt diese Tänze für profan und unschicklich, obwohl sie nach Meinung der Tänzer als ebenso heilige Tänze galten wie die Reigen des frühen Christentums. Von nahezu jedem der namhaften Kirchenväter blieb der Nachwelt ein Schriftdenkmal erhalten, das vom Verbot der profanen Tänze handelt. Auch in den Beschlüssen der General- und Nationalkonzilien der Kirche begegnet man dem Verbot des Tanzes bzw. den Vorstellungen der offiziellen Unterhalter (Jokulatoren) häufig, fast bis zum Ende des Mittelalters. Die Beschlüsse des Pariser Konzils von 1198, des 1215 in Rom stattgefundenen Konzils sowie des Ofner Konzils von 1279 beispielsweise enthalten zu diesem Thema sehr ähnliche Regelungen.
In dem Beschluß Nr. 46 des Ofner Konzils heißt es, "die Priesterschaft möge nicht dulden, daß das Volk auf dem Kirchhof oder in der Kirche selbst zu tanzen anhebt, denn schon der hl. Augustin meinte, daß jemand an einem Feiertag lieber hacken oder pflügen denn tanzen solle". Wie es anhand der Quellen scheint, hatte die Kirche, als das Christentum im Kreis des Ungartums zur dominierenden Religion geworden war, sich in der Praxis bereits völlig vom Tanz abgewandt und hielt diesen auf Einfluß der mystischen Denker des Mittelalters mehr für eine Ausgeburt des Teufels. Unter den einschlägigen ungarischen Dekmälern verdient hier eine zwischen 1001 und 1004 verfaßte Abhandlung des hl. Gerhard Erwähung, in der er gegen die schlechten Sitten der Priester wettert, für die die Jagd oder Streitereien beliebte Zeitvertreibe wären und die selbst die Jokulatoren (als Musiker, Tänzer bzw. Jongleure auftretende Unterhalter) nicht verachteten. Das zur Zeit König Kolomans, im Jahr 1100 tagende Graner Konzil sah sich gar gezwungen, die an den "Kalendenfesten" teilnehmenden Priester wegen ihres ausschweifenden Betragens zur Ordnung zu rufen.
Infolge der ständigen Verbote verschwanden die Tänze im Laufe des Mittelalters nach und nach aus den Kirchen. Die Mode der Darstellung von Tänzen mit sakralem bzw. biblischem Thema allerdings lebte - laut Zeugnis der überlieferten Denkmäler - noch eine zeitlang weiter. Das vielleicht schönste Beispiel dafür aus dem arpadenzeitlichen Ungarn sind die beiden Zellenemailbilder der Monomachos-Krone, die vermutlich den Siegestanz der Prophetin Mirjam nach der Überquerung des Roten Meeres zeigen. Die Krone ist eine byzantinische Arbeit, Kaiser Konstantinos Monomachos hatte sie in den 1070er Jahren König Géza II. geschenkt. Ebenfalls in Byzanz entstand jene Bronzeschale, auf der verschiedene Musiker sowie eine Frauengestalt in akrobatischer Pose abgebildet sind. Aufgrund internationaler Parallelen darf angenommen werden, daß diese Figur die biblische Salome darstellt. Ihrer Gestalt begegnet man auch an den Portalen und Kapitellen mehrerer westeuropäischer Kirchen (z.B. in St. Zenokirche aus dem 11. Jahrhundert in Verona).
Jahrhundertelang war die Darstellung des Engelstanzes ein ebenso beliebtes sakrales Thema. Schon der byzantinische Kirchenvater, der hl. Basilius der Große, schrieb im 4. Jahrhundert, daß die wichtigste Beschäftigung der Engel im Himmel der Tanz (tripodium) sei, was er für ein von irdischen Sterblichen zu befolgendes Beispiel halte. Aus dem arpadenzeitlichen Ungarn ist ein solcher Fall bislang nicht bekannt, doch anhand der europäischen Parallelen halten wir es für wahrscheinlich, daß er bei uns zu damaliger Zeit ebenfalls vorkam. Leider enthält keines der im Mittelalter illustrierten ungarischen Bücher (Bilderlegendarium, Bibel von Nekcse, Bilderchronik) Darstellungen eines sakralen bzw. biblischen Tanzes. In den westeuropäischen Kodizes des 12.-13. Jahrhunderts hingegen erscheinen der Tanz König Davids vor der Bundeslade, die tänzerische Begrüßung des Goliat-Besiegers David oder der himmlische Engelstanz mehrfach.
Hoftänze
Ein beredter Beweis der europaformenden kulturellen Einheit ist die Mode des mittelalterlichen Gesellschaftstanzes, die sich vom Westen aus über einen großen Teil des Kontinents verbreitete. In ihrem Hintergrund standen die dem europäischen Adel eigene Kultur und sein Lebensstil, die sog. ritterliche Lebensform, deren wesentlichen Bestandteil der Tanz bildete. Neben Ritterdichtung- und musik diente dem Adel auch der Tanz dazu, sich deutlich von der Bauernschaft und Bürgerschaft abzugrenzen und eine seiner Weltanschauung am besten entsprechende Kultur zu schaffen. Am meisten verbreitet war der Rundtanz. Er bestand ursprünglich aus einem auf Gesang getanzten Reigen der Frauen und einem im Kreis verlaufenden, schreitenden, von Instrumenten begleiteten Paartanz. Mit der Zeit näherten sich diese beiden Teile einander im Charakter, auch der Reigen wurde paarweise, mit Instrumentalbegleitung getanzt, und später durch neue, hüpfende Tänze mit schnellem Tempo ergänzt.
Bis zum 13. Jahrhundert hatten sich auch in Ungarn die Bedingungen für das Aufblühen der Ritterkultur entwickelt - eine ortsgebundene königliche Hofhaltung, ausgeglichene Machtverhältnisse und intensive internationale Kontakte. Im Zeitraum zwischen der Herrschaft Bélas III. und Sigismunds erfreute sich der ungarische Königshof hoher Wertschätzung, war Schauplatz für Treffen von Monarchen. Die ungarischen Könige knüpften verwandtschaftliche Beziehungen zu solchen Herrscherfamilien, deren Ritterzentren zu den glanzvollsten in Europa zählten. Herrscherbesuche, Familienfeste, Krönungen, Empfänge von Gesandten oder internationale Verhandlungen liefen vermutlich nach den zeremoniellen Regeln des Rittertums ab, die wiederum ohne Schaukämpfe, Ritterturniere, Festessen, Jagden, Tänze und andere spektakuläre Vergnügungen kaum vorstellbar waren.
Kriegstänze
Eine auf die Streifzüge der Ungarn bezogene Aufzeichnung aus dem 10. Jahrhundert - das von Ekkehard in seiner Chronik beschriebene Sankt Gallener Abenteuer - berichtet, daß sich die Krieger im Klosterhof wie bei einer Siegesfeier zu vergnügen begannen und "in überschäumender, guter Laune vor ihren Führern tanzten". Später erwähnt auch Anonymus in seiner Gesta über die Landnahme mehrfach, daß die Krieger Árpáds nach erfolgreichen Eroberungen zu feiern pflegten; nach Einnahme der Nyírség (Birkenländchen) beispielsweise "ist die Freude der Krieger groß und sie halten ein Festgelage, bei dem sich ein jeder mit seinem Siege brüstet". In der Beschreibung des zwanzigtägigen Freudenfestes, das nach kampfloser Übernahme der für die Stadt des Hunnenkönigs Attila gehaltenen Etzilburg (Altofen) stattfindet, malt er die Geschichten mit dem ritterlichen Pathos seiner eigenen Zeit aus. Hinter diesen Schilderungen könnten sich solche pantomimischen Spiele bzw. Tänze verbergen, wie man sie in der Folklore der asiatischen Völker noch heute findet. Die auf die frühen Kriegstänze bezogenen wenigen Quellen sind demzufolge als verblassende Denkmäler einer vermutlich weitverbreiteten und reichen historischen Tradition zu bewerten.
Profane Tänze
Von der mittelalterlichen Kirche wurde allem, was außerhalb der Rahmen des geweihten religiösen Lebens lag und nicht mit den Glaubensprinzipien und Ideen der christlichen Kirche zu vereinbaren war, das Attribut profan angehängt. So kam es, daß zahlreiche Elemente der aus dem Osten mitgebrachten und der hier vorgefundenen traditionellen Kultur (Heldenepen, rituelle Tänze, Kulthandlungen) ebenso von diesem Kreis ausgeschlossen waren wie auch die Tätigkeit der an die Denkmäler der antiken römischen oder byzantinischen (und vielleicht noch östlicheren) Kulturen erinnernden tanzenden, singenden und musizierenden Interpreten. Über die Orte, wo sich die in den ungarischen Quellen häufig vorkommenden Jokulatoren, Histrione, Bänkelsänger, Spielmänner usw. niederließen, und zu ihren Besitzverhältnissen verfügen wir über genaue Kenntnisse. An die von ihnen geschaffenen Werke aber erinnert sich heute kaum noch jemand.
Den Angaben zufolge handelt es sich anscheinend um eine Gesellschaftsschicht, die aus Menschen verschiedener Herkunft und unterschiedlicher sozialer Stellung besteht. Viele von ihnen werden ansässig und treten in den Dienst des Königs oder der Edelleute, andere verdienen sich ihren Unterhalt auf ihren Wanderungen durch ganz Europa. Ihre Dienste sind im Kreis des weltlichen und kirchlichen Adels, der Priester, Mönche und Stadtbürger ebenso gefragt wie bei Leibeigenen. Ein geschickter Unterhalter mußte im 12.-13. Jahrhundert Gedichte improvisieren oder akrobatische Kunststücke vorführen können, aber auch auf das Singen, Tanzen und Spielen eines Instrumentes mußte er sich verstehen.
Anhaltspunkte zu den traditionellen Tänzen des ungarischen Gemeinvolkes der Arpadenzeit findet man - mangels Quellen - wiederum nur in historischen Dokumenten späterer Zeiten bzw. in den Volkstänzen des 19.-20. Jahrhunderts. Wie es anhand vergleichender Geschichts- und Folkloreforschungen scheint, waren in der traditionellen Kultur dieser Zeit Tanz, Musik, Drama, Spiel und Sport innerhalb wie außerhalb der Rituale eng miteinander verflochten, traten sowohl in sakraler als auch profaner Umgebung auf. Eine aus diesen Elementen bestehende Erscheinung bezeichnete Anonymus beispielsweise, als er an der Wende 12./13. Jahrhundert das Hochzeitsfest des Árpád-Sohnes Zolta beschrieb, mit dem Wort "ludere" (spielen). In ungarischsprachigen Quellen kommt auch der Begriff "tombol" (toben) vor. Der Ausdruck "Tanz", als einheitliche, nur die Kunst der rhytmischen Bewegung markierende Bezeichnung, bildete sich damals in Europa gerade heraus, und erschien als internationales Wanderwort erst Mitte des 14. Jahrhunderts in Ungarn.
