Geburt der Literatur, Grabrede und Fürbitte

Schenkungsbrief von Veszprémvölgy
Grabrede und Fürbitte
Pray-Kodex 2
Geburt der Literatur

Die Entscheidung Stephans des Heiligen, sein Volk der Kirchenorganisation mit lateinischem Ritual zuzuführen, hatte zur unmittelbaren Folge, daß sich im Karpatenbecken die Schriftlichkeit mit lateinischen Buchstaben einbürgerte. Das Kennenlernen der lateinischen Schriftzeichen war Grundvoraussetzung für die Geburt der Literatur. Schon zur Herrschaftszeit König Stephans wurden in Ungarn mehrere Werke geboren. Obwohl die Menschen, die diese ersten Werke schufen, naturgmäß aus der Welt des christlichen Abendlandes an den ungarischen Königshof kamen, hatten sie doch eines gemeinsam: sie waren allesamt Geistliche - teils einfache Mönche, teils ebenfalls Mönche gewesene hohe Kleriker. Die väterlichen Ermahnungen des hl. Stephan an seinen Sohn Herzog Emmerich sowie die Beschlüsse des Kronrates, d.h. die Gesetze Stephans, wurden vermutlich von ein und derselben Person in lateinische Form gegossen.

Wie Sprache und Gedankenwelt dieses Verfassers andeuten, dürfte sein zu Hause Nordfrankreich oder Lothringen gewesen sein, wo die Traditionen der karolingischen Renaissance noch lebendig waren. Was seine Person anbelangt, denken mehrere Forscher an Erzbischof Aschrich. Aus der Kanzlei Kaiser Ottos III., also von deutschem Boden, kam der mit dem Buchstaben "C" signierende, namentlich aber nicht bekannte Notar des Kanzlers Heribert nach Ungarn, welcher den Privilegienbrief von Pannonhalma verfaßte. Gleichfalls aus dem deutschen Sprachraum stammte jener Schreiber, der die Gründungsurkunde von Fünfkirchen für König Stephan formulierte und dabei der Praxis der von Kanzler Egilbert geleiteten deutschen Hofkanzlei folgte. Eigenheiten der Sprache und Beurkundung Norditaliens zeigt die Veszprémer Urkunde aus dem Jahr 1009. Ihr Verfasser, hinter dessen Person die Historiker Bischof Bonipert von Fünfkirchen vermuten, wurde in der Lombardei geboren. Und von der Urkunde des Klosters Veszprémvölgy in griechischer Sprache ist anzunehmen, daß sie ein byzantinischer Mönch geschrieben hat.

Diese Vielfalt nahm bald eine immer entschiedenere Richtung: Zwar wurde der Einfluß der Franzosen aus Lothringen, die schon am Hof Stephans eine große Rolle gespielt hatten, unter Peters Herrschaft - eine zeitlang - durch den der Italienier und Deutschen in den Hintergrund gedrängt, doch mit Beginn der Herrschaftszeit Andreas I. gewannen die französischen Wallonen wieder zunehmend an Bedeutung. Von ihnen übernahmen dann, bis zum Ende des Jahrhunderts fast ausschließlich, wirkliche Franzosen die Führung: Die Führungsgarde Andreas I. bestand aus Lothringer Wallonen. König Ladislaus der Heilige schließlich gründete in Somogyvár ein Monasterium, das anderthalb Jahrhunderte hindurch nur Franzosen in seine Mauern aufnahm und dem bei der Pflege der französisch-ungarischen Beziehungen eine wichtige Rolle zukam.

Die Musterexemplare der ungarischen Zeremonialbücher des 11. Jahrhunderts stammten aus dem französischem Sprachraum. Mit dem Gründungsbrief von Tihany begann das Zeitalter der französischen Beurkundungspraxis, und vom 11. Jahrhundert an richtete sich auch die ungarische Rechtschreibung und Aussprache nach den ungeschriebenen Regeln der französischen Rechtschreibung und Ausprache. Dieser Prozeß kam durch die Kleriker, die an französischen Universitäten studierten, im ausgehenden 12. Jahrhundert zur vollen Entfaltung; infolge der dynastischen Beziehungen der Arpaden und der Beziehungen der Kreuzritter erhielt er erneut einen starken Impuls. Tatsache ist, daß die unter italisch-lothringisch-bayerischen Einflüssen entstandene lateinische Literatur Ungarns zum Ende der Arpadenzeit vollständig unter den Einfluß der französischen Vorbilder geriet, sei es nun im Hinblick auf die Sprache, die Gattung oder die Ästhetik.

KSz


Grabrede und Fürbitte

Das früheste zusammenhängende Sprachdenkmal Ungarns, eine 26zeilige Grabrede und ein angeschlossenes sechszeiliges Gebet für den Toten, erhielt im Anhang zum Sakramentarium des Pray-Kodex, am Ende des lateinischsprachigen Bestattungszeremoniells Platz. Dieser Teil der Handschrift wurde zwischen 1192 und 1195 kopiert, doch der ungarische Text war bereits im Musterexemplar enthalten und kann nach seinem Sprachzustand in die Mitte des 12. Jahrhunderts datiert werden. Unmittelbar auf die ungarische Grabrede folgt eine etwas ausführlichere lateinische Predigt ähnlichen Inhalts, das Muster der ungarischen Version. Der Verfasser der ungarischen Grabrede hat die lateinische Vorlage umgestellt, den Text vereinfacht, zugleich aber sämtliche Stilelemente - von der Wiederholung bis hin zur Figura etymologica (halálnak halálával halsz = stirbst Du den Tod des Todes) - geschickt adaptiert. Diese Predigt entstand für Gläubige, die des Lateins nicht mächtig waren, aber über religiöses Grundwissen verfügten. Die Rede verweist auf die Schöpfung, den Sündenfall, dessen Folgen sowie den Tod, und fordert die Gläubigen dann zum Gebet für den Toten auf. Die Fürbitte selbst hat gebundene Form, sie ist eine wortwörtliche Übersetzung des lateinischen Gebetes. Die ungarische Predigt ist sprachlich so untadelig, wie es nur eine schon mehrfach gehaltene Rede sein kann: irgendwann hatte jemand die in Worten gereifte Version aufgezeichnet. Allerdings war diese Fassung nicht nur für einige wenige Anlässe gedacht, sondern dürfte als Modell der Grabreden in ungarischer Sprache gedient haben. (Erzbischof Csanád Telegdi hielt zur Beisetzung König Karl Roberts im Jahr 1342 eine Grabrede ähnlichen Inhalts.) An Bedeutung gewinnt sie durch die Tatsache, daß die Grabrede in Europa damals keine allgemein verbreitete Gattung war, und auch daß man Predigten in der Volkssprache aufzeichnete, kam nicht allzu häufig vor.

EM