Ars dictaminis, Gereimte Prosa, Rhytmische Prosa

Autorendarstellung
Erste Seite des Anonymus-Buches
Carmen miserabile
Ars dictaminis

Begriff der mittellateinischen Sprache. Er entstammt dem lateinischen Verb dictare = "diktieren, formulieren, schreiben, dichten" und bedeutet "die Kunst des Formulierens". Ein zum Verfassen lateinischsprachiger Briefe und Urkunden gebäuchliches Lehrbuch, das aus den Regeln der antiken Rhetorik zusammengestellt wurde (der Aufbau des Briefes und dessen den dichterischen Stilidealen entsprechende Formulierung). Vom 12. Jahrhundert an löst es den Gegenstand der im Rahmen der septem artes liberalis gelehrten Rhetorik (= die Redekunst im engeren Sinne) ab. Das mittellateinische dictamen umfaßt die auf dem Wechsel von Kürze bzw. Länge aufbauenden (metricum dictamen) und rhytmisch (rhytmicum dictamen) oder in Prosa verfaßten, kunstvoll geformten schriftlichen oder mündlichen Formulierungen. Die Lehrbücher fanden im 11.-16. Jahrhundert unter verschiedensten Titeln Verbreitung (z.B. Breviarium de dictamine, Rationes dictandi, Summa dictaminum, Flores rhetorici, praecepta dictaminum) und bestanden allgemein aus zwei Teilen (einer theoretischen Einleitung sowie einer Briefmuster- oder Formelsammlung, den Epistularien bzw. Formularien). Ab Anfang des 12. Jahrhunderts beschränkte sich diese Art Lehrbücher (z.B. das des Hugo Bononiensis) auf die Prosa, weshalb seit Beginn des 13. Jahrhunderts der Begriff dictamen einfach "Kunstprosa" bedeutet. Die erste ars dictaminis, das Briefmusterbuch des Petrus de Vinea mit dem Titel Summa dictaminis, gelangte unseres Wissens im ausgehenden 13. oder Anfang des 14. Jahrhunderts nach Ungarn. Aber auch Albericus weist um 1100 auf die Benutzung eines solchen Handbuches hin, und in der Arbeit des Anonymus lassen sich Anzeichen davon finden, daß er das Lehrbuch des Hugo Bononiensis aus dem 12. Jahrhundert gekannt hat.

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Gereimte Prosa

Bis zum Ende des 12. Jahrhunderts Stilkriterium der Kunst. Es forderte, daß Sätze und Teilsätze (Kolonnen) im großen und ganzen gleichlang und identisch konzipiert sein müssen (Parallelismus). Das proportionelle Plazieren der Wörter innerhalb eines Satzes sicherte dessen Rhytmus und gedankliches Auf und Ab. Zusammengehörige Wörter wurden durch das Einschieben von Satzteilen getrennt (z.B. Substantiv und beigefügtes Attribut), und die Teilsätze reimten sich - unter Beachtung der mittelalterlichen oder kirchlichen Aussprache - am Ende. In den Teilsätzen sorgten Wortspiele, Alliterationen und etymologisierendes Zusammenklingen von Wörtern (Figura etymologica) für eine Belebung des Vortrages.

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Rhytmische Prosa

Diese den Stil betreffende Theorie arbeitete man Ende des 12. Jahrhunderts am päpstlichen Hof aus. An der Wende des 12./13. Jahrhunderts begann sie, die Stilrichtung der gereimten Prosa abzulösen, chronologisch gesehen hat sie also datierenden Wert. Der Rhytmus, so lautete die Theorie, wird durch das Betonen der am Ende des Teilsatzes stehenden Wörter geschaffen, und dafür gab es drei, mitunter vier Grundformen (cursus velox, planus, tardus, trispondaicus). In den päpstlichen Urkunden kam der Prosarhytmus im 13. Jahrhundert konsequent zur Anwendung, wurde fast schon zum Maßstab ihrer Authentizität. Von der päpstlichen Kanzlei ausgehend verbreitete sich das neue Stilideal im Laufe des 13. Jahrhunderts dann im gesamten Gebiet des lateinischen Christentums.

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