DAS ZEITALTER DES MONGOLENSTURMS
Die neue Einrichtung
Einige Jahre nach seiner Thronbesteigung nahm Andreas II. (1205-1235) großangelegte Reformen in Angriff, die er zusammenfassend "neue Einrichtung" nannte. Spektakulärstes Element der königlichen Politik war die Verschenkung von Krongütern in bis dahin nie gekannten Ausmaßen. Zwar hatten die Arpaden ihre Anhänger auch früher schon durch Güterschenkungen belohnt, doch Andreas wich in einigen wichtigen Punkten von der Praxis seiner Vorgänger ab. Er gab nicht nur mehr - wesentlich mehr -, als es früher Brauch war, sondern tat dies auch in anderer Form. Seine Donationen betrafen auch die Ländereien der bis dahin im großen und ganzen unbehelligt gebliebenen königlichen Burgorganisation, und zwar dahingehend, daß der Beschenkte das erhaltene Besitztum an seine Nachkommen vererben konnte.
Die Auswirkungen der Donationen Andreas II. waren in erster Linie gesellschaftlicher und politischer Natur. Die Erschütterung der königlichen Burgorganisation führte zur Schwächung der Machtpositionen des Monarchen, und die so entstandene Leere füllten die mit Windeseile anwachsenden weltlichen Großgrundbesitze aus. Auch das Verhältnis zwischen dem König und dem über Großgrundbesitz verfügenden Adel änderte sich. Früher fußte der Reichtum und die Macht der Edelleute in erster Linie auf den vom König erhaltenen Ämtern und den daraus stammenden Einkünften. Andreas' Schenkungen aber bildeten die Grundlagen für riesige Privatvermögen, die es ermöglichten, daß die Großgrundbesitzer mit der Zeit zu einem von der königlichen Macht unabhängigen, selbständigen politischen Faktor wurden.
Gleichzeitig verringerten diese Donationen aber auch die Einkünfte des Königs. Andreas versucht Abhilfe zu schaffen, indem er bemüht war, seine Einnahmen aus den zu den Majestätsrechten gehörenden Quellen zu steigern. Er erhob außerordentliche Steuern und neue Handelszölle, ließ Geld minderer Qualität prägen und machte im Gegenzug dessen Benutzung durch Zwangsumtausch zur Pflicht. Der Geldumtausch und die Verpachtung des königlichen Salzhandelsmonopols wurden zur Regel, was dem Schatzamt zu ständigen Einnahmen verhalf. In den Jahren der neuen Einrichtung wurde der für die Finanzangelegenheiten des Herrschers verantwortliche Schatzmeister einer der einflußreichsten Würdenträger am Königshof.
Es gab kein Element der von Andreas II. getroffenen Maßnahmen, welches nicht die Interessen irgendeiner Gesellschaftsgruppe als ganzes oder einzelner ihrer Mitglieder verletzt hätte. Und so erwuchs der Politik der neuen Einrichtung eine breitgefächerte und differenzierte Opposition. Von der Kirche wurde die Verpachtung der königlichen Einkünfte beanstandet, da die Pächter jüdische und mohammedanische Finanzkaufleute waren. Ein Teil des Adels hatte von vornherein für Emmerich Partei ergriffen, und nun schlossen sich ihnen auch diejenigen an, die bei den großen Schenkungen übergangen worden waren oder sich aus anderen Gründen gegen den König wandten. Die königliche Dienstleute hatten Furcht, daß man sie verschenkte, und die königliche Servienten genannten kleineren Grundbesitzer befürchteten, daß sie im Schatten der immer mehr Reichtümer anhäufenden Schicht der Großgrundbesitzer ihre Unabhängigkeit verlören.
Die Goldenen Bullen
Die Unzufriedenheit gegenüber Andreas II. drang von Zeit zu Zeit in unterschiedlichen Formen an die Oberfläche. Eine kleine Gruppe Edelleute wollte die Söhne des jüngeren Bruders von König Béla III., des im Exil verstorbenen Géza, als Thronbewerber auftreten lassen, doch ihr Plan mißlang. 1213 verübte eine andere Gruppe Oppositioneller auf die ihre Verwandten und Günstlinge zum Schaden des ungarischen Adels fördernde und deshalb außerordentlich unbeliebte Königin Gertrud einen Mordanschlag. Wieder andere versuchten, den Thronfolger Béla gegen seinen Vater auszuspielen, indem sie die Krönung des Herzogs erzwangen.
Nach solchen Vorereignissen gelang es im Frühjahr des Jahres 1222 den adligen Vertretern der Emmerich-Partei - die auf Unterstützung eines Großteils der königlichen Servienten vertrauen durften -, von Andreas II. den Erlaß eines Freibriefes zu erzwingen, der später nach dessen Siegel als Goldene Bulle bezeichnet wurde. Einige der darin festgelegten Maßnahmen waren berufen, allgemeines Unrecht wiedergutzumachen. Die übrigen dienten einerseits dem Schutz der Interessen jener Gruppen - des oppositionellen Hochadels und der königlichen Servienten -, die die Goldene Bulle erzwungen hatten, während sie gleichzeitig zahlreiche Elemente der Politik der neuen Einrichtung anfochten. Andreas II. gab sich vorübergehend einsichtig, doch weder damals, noch anläßlich der Erneuerung der Goldenen Bulle im Jahr 1231 hat er ernsthaft daran gedacht, die Bestimmungen des Gesetzes zu erfüllen.
Dennoch blieb die Goldene Bulle nicht ganz ohne Wirkung. Die schriftliche Fixierung der Rechte der königlichen Servienten trug zur Herauskristallisierung dieser Gesellschaftsschicht bei, und Jahrhunderte später zählte dieses vielleicht bekannteste Dokument der Arpadenzeit zu den gesetzlichen Eckpfeilern der "adligen Verfassung". Die politische Spannung im Land löste sich allerdings auch nach dem Erlaß der Goldenen Bulle nicht. In den letzten Jahren seiner Herrschaft kam es zum Konflikt zwischen Andreas II. und Herzog Béla, der sich gegen seinen Vater wandte, und auch die ihre eigenen Interessen vor die des Königs stellende Kirche trat gegen den Monarchen auf. Dem Herzog war kein wirklicher Erfolg beschieden, die Kirche aber erzwang im Jahr 1233 den Abschluß der Bereger Vereinbarung zwecks Wiedergutmachung des an ihr begangenen Unrechts.
Ungeachtet der innenpolitischen Schwierigkeiten verfolgte Andreas II. eine sehr aktive Außenpolitik. Er verwickelte sich in endlose Militäraktionen, um Galizien zu erobern, indess ohne dauerhaften Erfolg. Der 1217-1218 endlich doch noch stattfindende Kreuzzug ins Heilige Land endete mit einem Mißerfolg. Ergebnisse zeitigte nur seine Politik auf der Balkanhalbinsel. 1211 siedelte Andreas zum Schutz gegen die nomadisierenden Kumanen im südlichen Siebenbürgen den Deutschen Ritterorden an. Da die Ritter jedoch nach dem Ausbau eines autonomen Staatswesens strebten, wurden sie von Andreas 1225 wieder vertrieben. Erfolge konnte hinsichtlich der Unterwerfung und Bekehrung der Kumanen auch der an die Spitze Siebenbürgens gestellte Herzog Béla verzeichnen. Im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts wurden die beiden östlich bzw. westlich der unteren Donau gelegenen Provinzen Sewerin und Matschow Teil des Königreiches Ungarn.
Die konservative Wende
Bereits mit seinen ersten Maßnahmen machte der nach dem Tod seines Vaters zum König gekrönte Béla IV. (1235-1270) deutlich, daß er in jeder Hinsicht mit der Politik seines Vorgängers zu brechen wünscht. Das politische Ideal Bélas war die uneingeschränkte Macht der ersten Arpaden, sein Ziel aber die Wiederherstellung der Zustände, wie sie zur Zeit Bélas III. geherrscht hatten. Das wichtigste Instrumentarium dazu wähnte er in der Rücknahme der "nutzlosen und überflüssigen Erbschenkungen" früherer Jahre zu entdecken. Schon zu Lebzeiten seines Vaters hatte er - allerdings ohne Erfolg - versucht, diese konservative Wende herbeizuführen. Nach der Thronbesteigung ging er erneut an die Realisierung seines Planes. Die Ergebnisse der Aktion hielten sich in Grenzen, ihre Folgen erwiesen sich als umso schwerwiegender.
Derart groß war die Unzufriedenheit mit der Politik des Königs, daß sich Béla 1239 gezwungen sah, die Rücknahme der Schenkungen aufzugeben. Doch "der Haß zwischen dem König und den Ungarn", wie der Zeitgenosse Rogerius den Zustand des Landes charakterisierte, loderte weiter. Ursache dessen war die Aufnahme der Kumanen. 1239 hatte sich eine größere Gruppe Kumanen mit Einverständnis Bélas im Land angesiedelt, und bald kam es zwischen den Nomaden und den ansässigen Ungarn zu Zusammenstößen. Kränkungen fielen auf beiden Seiten, die Ungarn aber fanden, daß ihr König in strittigen Fragen zumeist für die Kumanen Partei ergriff.
Die Katastrophe
Dies war die Situation im Land zum Ende des Jahres 1240, als die Heerscharen der in Europa als Tataren bekannten Mongolen die ungarischen Grenzen erreichten. Daß die Mongolen einen Angriff vorbereiteten, darüber hatte der zur Suche nach den im Osten gebliebenen Ungarn aufgebrochene Julianus schon Jahre vorher zuverlässige Nachrichten mitgebracht. Den König nahmen jedoch seine innenpolitischen Schwierigkeiten in Anspruch, und das Volk hielt die Mongolen für irgendwelche herumstreifenden Nomaden. Verspätet und zögernd traf Béla Verteidigungsmaßnahmen, und zur Verschlimmerung der Lage trug bei, daß der kumanische Fürst Kötöny, den man - zu Unrecht - des Zusammenspiels mit den Mongolen bezichtigte, im Pester Heerlager vom Pöbel erhängt wurde. Die in Zorn geratenen Kumanen verließen daraufhin das Land, nicht ohne überall an ihrem Weg Zerstörungen zurückzulassen, und Béla IV. hatte eine wertvolle Streitmacht verloren.
Im Frühjahr 1241 griffen die Mongolen das unvorbereitete Ungarn von drei Richtungen an. Béla IV. zog mit seinen schwer zusammengebrachten Truppen der Hauptstreitmacht entgegen, doch bei Muhi am Fluß Sajó erlitt er eine katastrophale Niederlage. Den König konnten seine Getreuen nur unter großen Schwierigkeiten aus dem Gemetzel retten, der Großteil seines Heeres aber - darunter hohe geistliche und weltliche Herren - war verloren. Bis zum Sommer 1241 gelangten die nördlich und östlich der Donau gelegenenen Landesteile in mongolische Hand, lediglich einige Burgen und provisorisch errichtete Festungen hielten sich noch. Béla IV. organisierte die Verteidigungslinie entlang der Donau und bemühte sich verzweifelt um militärische Hilfe aus den westlichen Ländern, hatte jedoch keinen Erfolg.
Nach Anbruch des Winters überquerten die Mongolen die zugefrorene Donau und versuchten, Béla IV. in ihre Gewalt zu bekommen. Der König flüchtete nach Dalmatien, so daß die Mongolen seine Verfolgung aufnahmen und dabei durch Transdanubien und Slawonien stürmten. Da es ihnen jedoch nicht gelang, Béla zu fassen, zogen sie im Frühjahr 1242 unverhofft davon, ein in Trümmern liegendes Land zurücklassend. Das Ausmaß der Zerstörungen durch den Mongolensturm läßt sich nicht genau ermessen, Schätzungen zufolge differierten die Verluste der Einwohnerschaft zwischen 10-15 bzw. 50 Prozent. Am schlimmsten hatte es Siebenbürgen und die Große Ungarische Tiefebene getroffen, die Gebirgsgegenden sowie Transdanubien und Slawonien konnten sich relativ glücklich schätzen. Nach dem Kriegsjahr folgte, wie dies zu sein pflegt, eine Hungersnot und dezimierte die Bevölkerung des Landes weiter.
Der Wiederaufbau des Landes
Die bitteren Erfahrungen des Mongolenüberfalls ließen Béla, als er aus Dalmatien zurückkehrte, das Fiasko seiner bisherigen Politik erkennen. In der Folgezeit strebte er anstelle von Konfrontationen danach, das Gleichgewicht zwischen der eigenen Gesetzen unterliegenden gesellschaftlichen Entwicklung und den königlichen Machtinteressen zu finden. Deshalb dienten die nach dem Mongolensturm durchgeführten Güterprüfungen nicht mehr der gewaltsamen Restauration der Krongüter, sondern dazu, jedem sein jeweils rechtmäßiges Eigentum zu sichern. In den Mittelpunkt seiner Politik stellte Béla die Maßnahmen zur Abwehr eines neuen mongolischen Angriffs. Auch militärisch zog er die Konsequenzen aus dem Mongolenüberfall, er ließ moderne Steinburgen erbauen und hielt seine Untertanen durch Güterschenkungen dazu an, es ihm gleichzutun. Ebenfalls Verteidigungszwecken diente die Wiederansiedlung der Kumanen im Land.
Andere Maßnahmen Bélas IV. zielten darauf ab, das Land wirtschaftlich wieder in Schwung zu bringen. Mit der Gründung neuer Siedlungen oder der Privilegierung bereits bestehender rief er Städte westeuropäischen Typs, also mit eigener kommunaler Verwaltung, ins Leben, darunter das im Jahr 1247 gegründete Buda. Diesem Beispiel folgten später auch seine Nachkommen, und in den Jahrzehnten nach dem Mongolensturm begannen sich die Hauptzüge des mittelalterlichen ungarischen Städtenetzes abzuzeichnen. Béla reformierte die Geldprägung und das Zollwesen, er richtete neue Münzprägekammern ein, unter denen die slawonische den wertbeständigen Silberdenar prägte. Bei der Festlegung der Zölle aber zog man von nun an nicht mehr nur die Menge der Waren, sondern auch ihren Wert in Betracht.
Außenpolitisch wurde die Aufmerksamkeit des Königs nach dem Mongolenüberfall von der Angelegenheit der benachbarten Babenberg-Provinzen in Anspruch genommen. Die Babenberger hatten über Österreich und die Steiermark geherrscht, und das letzte männliche Mitglied der Familie war 1246 in einer Schlacht gegen Béla IV. gefallen. Mehrere Bewerber erhoben Anspruch auf die kostbaren Provinzen, deren Schicksal sich schließlich im Ringen zwischen dem böhmischen König Ottokar II. und Béla IV. entschied. Bei ihrem Wettstreit mit wechselhaften Erfolgen gelangten sie erst zu einer Einigung, in deren Ergebnis die südliche Steiermark einige Jahre unter ungarische Oberhoheit kam. Doch zuletzt endeten die immer wieder ausbrechenden Kämpfe mit einer Niederlage Bélas IV., so daß er gezwungen war, seinen Plan einer Expansion nach Westen aufzugeben.
Die letzten Jahre wurden dem alternden König durch das Zerwürfnis mit seinem älteren Sohn Stephan verbittert. Die genauen Ursachen dafür sind nicht bekannt, nach den Angaben der zeitgenössischen Quellen jedoch bieten sich mehrere gleichermaßen glaubhafte Lösungen an. Tatsache ist auf jeden Fall, daß der zunächst Siebenbürgen, dann die Steiermark und schließlich erneut Siebenbürgen regierende Stephan den Streit vom Zaun gebrochen hat. Im Jahr 1262 erzwang er von Béla IV., daß dieser ihm seinen Landesteil bis zur Donau vergrößerte, und damals legte er sich auch den bis dahin unbekannten Titel "jüngerer König" zu. Das Verhältnis zwischen Béla und Stephan besserte sich auch in der Folgezeit nicht, und 1264 sandte Béla IV. ein Heer gegen seinen Sohn, nach dessen anfänglichen Erfolgen Stephan die Oberhand gewann. Der 1266 geschlossene Frieden stellte zwar die Lage vor Ausbruch des Krieges wieder her, doch die Spannungen innerhalb der Dynastie blieben.
DIE LETZTEN ARPADEN
Die Barone und ihre Familiares
Als sein Vater starb, wurde der jüngere König unter dem Namen Stephan V. (1270-1272) König des ganzen Landes, und führte ungeachtet der Vorereignisse die Politik Bélas IV. fort. Ähnlich wie sein Vater war er auf den Schutz der verbliebenen Krongüter und die Entwicklung der Städte bedacht. Er bestätigte zum Großteil die von seinem Vater gewährten städtischen Privilegien, ließ aber auch neue Freibriefe ausfertigen, beispielweise für Gyor (Raab). Gleichzeitig galt Stephan, im Gegensatz zu Béla IV., als ausgezeichneter Soldat, dem es gelang, Ottokar II. zur Umkehr zu zwingen - dieser hatte nämlich einzelne Gebiete Westungarns seinem im Ausbau begriffenen Reich angliedern wollen.
Nach dem Tod Stephans V. stürzte das Königreich der Arpaden in eine der tiefsten Krisen seiner Geschichte. Auf dem Thron saß zwar der minderjährige Sohn Stephans, Ladislaus IV. (1272-1290), die Macht aber gelangte in die Hände miteinander wetteifernder Gruppen von Baronen. Im Gegensatz zur Neuzeit war "Baron" damals noch nicht der vererbliche Titel eines Aristokraten - es gab damals auch noch keine Aristokratie -, sondern bezeichnete die wichtigsten königlichen Würdenträger. Theoretisch waren die Begriffe Baron und adliger Großgrundbesitzer also nicht identisch, in der Praxis jedoch hatten die meisten Edelleute im Verlauf ihres Lebens für kürzere oder längere Zeit tatsächlich das eine oder andere Amt eines Barons bekleidet. Die Mächtigsten von ihnen trugen die Baronswürde ständig, manche sogar mehrere zur gleichen Zeit.
Die Macht der Barone gründete sich auf ihren Besitztümern, ihren nach dem Mongolenüberfall errichteten Burgen und den Gefolgschaften der ihnen dienenden Familiares. Ein Familiaris trat - zumindest theoretisch - freiwillig in den Dienst irgeneines mächtigeren Grundherren, möglichst eines Barons, und wurde so ein Mitglied des Hausgesindes, der Familie seines Herren. Er hatte Anspruch auf Schutz und gelegentliche Zuwendungen, als Gegenleistung dafür verwaltete er die Güter und Burgen des Grundherren, vertrat diesen in seinen Ämtern, hauptsächlich aber zog er mit ihm in den Krieg, selbst wenn es gegen den König ging. Die sich Mitte des 13. Jahrhunderts verbreitende Familiaritas erinnert nur entfernt an das aus Westeuropa bekannte Vasallenverhältnis, war jedoch keinesfalls identisch mit diesem.
Mitte des 13. Jahrhunderts konnten Béla IV., und in begrenztem Maße auch Stephan V., die gewachsene Macht der Barone noch in ihre eigenen Dienste stellen. Doch nach 1272 brachen die Dämme und die Barone entzogen sich der Kontrolle der am Rande des Zusammenbruchs stehenden Zentralmacht. Ihr Hauptziel war es, solche territorial geschlossenen Herrschaftszentren zu schaffen, in denen außer ihrem eigenen kein anderer Wille Geltung besaß, auch der des Königs nicht. Um dies zu erreichen, führten sie regelrecht Krieg, sowohl untereinander als auch gegen den König. Im Zeitraum der Eigenkriege wurden brachialer Landraub und andere Formen von Gewalttaten zu ganz alltäglichen Dingen.
König Ladislaus, der "Kumane"
1277 erklärte man Ladislaus IV. für volljährig. Ihm gelang es, vor allem mit Unterstützung der Spitzen der ungarischen Kirche, die unter den Übergriffen der Barone viel zu leiden hatte, die Lage der Zentralmacht vorübergehend zu festigen und sogar den Aufstand einiger Barone niederzuschlagen. Auch in außenpolitischer Hinsicht wurde er aktiv. Die deutschen Fürsten hatten 1273 Rudolf von Habsburg zu ihrem König gewählt, der die ehemaligen Provinzen der Babenberger für sich beanspruchte. In dem daraufhin ausbrechenden Kampf mit Ottokar II. stellte sich Ladislaus IV. auf die Seite Rudolfs, und 1278 triumphierten sie bei Dürnkrut gemeinsam über das Heer des in der Schlacht fallenden böhmischen Königs. Mit diesem Sieg wurde der Grundstein für die Macht der Habsburg-Dynastie in Mitteleuropa gelegt.
Den Konsolidierungsversuchen Ladislaus IV. setzte der im Zusammenhang mit den Kumanen ausgebrochene Konflikt ein Ende. 1279 traf ein päpstlicher Legat in Ungarn ein, um dem König bei der Wiederherstellung seiner Macht den Rücken zu stärken. Stattdessen aber widmete er seine Aufmerksamkeit der gewaltsamen Bekehrung der den König unterstützenden, allerdings als Heiden lebenden Kumanen. Er erzwang den Erlaß des sog. "Kumanengesetztes", das durchzusetzen Ladislaus IV. sich sträubte. Der Streit artete aus und führte schließlich zum Aufstand der Kumanen. Dem König gelang es zwar, die Aufständischen in der Schlacht am Hód-tó (Bibersee) niederzuringen, doch von da an kehrte er den Staatsangelegenheiten den Rücken und lebte bis zu seinem Tod unter seinen geliebten Kumanen. Damit gab es praktisch keine Zentralgewalt mehr; das Schicksal des Landes lag erneut in den Händen der miteinander wetteifernden Gruppen der Barone.
Nach dem Tod Ladislaus IV., den man wegen seiner Lebensweise verächtlich "Kumane" genannt hatte, meinten viele, die Arpadendynastie sei ausgestorben. Anspruch auf den Thron erhoben nun Dynastien, die in weiblicher Linie mit den Arpaden verwandt waren: die Angeviner in Neapel, die bayerischen Wittelsbacher und die böhmischen Pnemysliden. Die Wahl der Landesoberen aber fiel auf Herzog Andreas, den sie unter dem Namen Andreas III. zum König krönten (1290-1301). Der Herzog beanspruchte den Thron als Enkel Andreas II., und gab es auch Zweifel in bezug auf die Legalität seiner Abstammung - sein Vater Stephan entstammte angeblich einer außerehelichen Beziehung Beatrix', der dritten Gattin Andreas II. -, wurden diese Stimmen durch die Krönung mundtot gemacht.
Das frühe Ständetum
Wichtigster Befürworter Andreas III. war eine politische Gruppierung, an deren Spitze Erzbischof Lodomer von Gran stand. Lodomer und sein Kreis erwarteten von Andreas, daß er die Macht der Barone brechen würde, und die Erreichung ihres Ziels erhofften sie sich von einer Umgestaltung der Regierungsform mit Einführung der Ständeordnung. Das Ständetum tauchte in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Westeuropa auf. Während das Vasallentum den einzelnen Interessengruppen ihren Platz vertikal, entlang der von den Großvasallen des Monarchen bis hin zu den Vasallen des Vasallen führenden Ketten zugewiesen hatte, gliederte das Ständetum die Gesellschaft horizontal, indem es die über gleiche Rechte verfügenden Gruppen jeweils einem Stand zuordnete, wobei die Macht vom Herrscher und von den Ständen gemeinsam ausgeübt wurde.
Diese von den Ständen geprägte Umordnung der Regierungsform betraf die wichtigsten Gremien der Beschlußfassung. Bis dahin waren hohe Geistliche und Barone Mitglieder des über die Tagesangelegenheiten entscheidenden Kronrates gewesen, nun fand man auch "die vom Land entsandten Räte" unter ihnen. Die Beschlüsse des Herrschers waren ohne die Zustimmung des Rates ungültig, d. h., die klassische ständische Gewaltenteilung bildete sich heraus. Nach gleichem Prinzip kam es zur Umbildung des Landtages in einen Ständetag. Dieser unterschied sich insofern von den Aufgaben der Legislative und Jurisdiktion versehenden früheren Versammlungen, daß hierzu auch die Vertreter des Adels erschienen, die Teilnehmenden eine Körperschaft bildeten und eine aktive Rolle bei der Beschlußfassung erhielten.
Die gesellschaftliche Basis des zeitgenössischen ungarischen Ständetums gedachten König und Klerus in den Edelleuten der Komitate zu finden. 1267 erkannte der Herrscher den einst nur den Vornehmsten gebührenden Adelsstand der königlichen Servienten an. Andreas und seine Anhänger wollten den so erstarkenden Adel gegen die Barone aufbieten, deshalb förderten und unterstützten sie die Bestrebungen der Adligen hinsichtlich der Bildung lokaler Selbstverwaltungen. Ein Gesetz schrieb vor, daß in jedem Komitat als Vertreter des Adels Stuhlrichter zu ernennen sind. Das aus dem Komitatsgespan und den Stuhlrichtern bestehende Gremium war forthin für die Angelegenheiten im Komitat zuständig. Damals wurden die Stuhlrichter noch vom König ernannt. Zu ihren Aufgaben gehörte unter anderem die Kontrolle des aus den Reihen der Barone kommenden Komitatsgespans.
Obwohl sich Andreas III. während seiner Herrschaftszeit bald jedes Jahr mit den aufrührerischen Baronen auseinandersetzen mußte, trug die Veränderung des Staatsgefüges durch Einführung der Ständeordnung, deren Eregbnisse man in den Gesetzen der Jahre 1290 und 1298 festschrieb, mit der Zeit dennoch die erhofften Früchte. Bis zum Jahr 1300 gaben die Barone der Reihe nach ihren Widerstand auf und auch die Lage des Königtums schien sich zu stabilisieren. Dieser langsam beginnenden Konsolidierung setzte der plötzliche Tod des Königs ein Ende. Und mit Andreas III. wurde, nunmehr unwiderruflich, die Dynastie der Arpaden zu Grabe getragen. Die Einrichtungen des Ständetums verkümmerten nach und nach, und die wiedererstarkten Barone konnten den Wettstreit der miteinander um die ungarische Krone kämpfenden Thronbewerber zu ihren Gunsten nutzen.
