Zurück zum Inhaltsverzeichnis

GESCHICHTE

VORGESCHICHTE
LANDNAHMEZEIT
ZEITALTER DER STAATSGRÜNDUNG



VORGESCHICHTE

Der Ursprung des Ungartums

Die Sprachwissenschaft hat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit den ihr eigenen Methoden nachgewiesen, daß die im Karpatenbecken heimische und im Vergleich zur Sprache der unmittelbaren Nachbarn fremde ungarische Sprache eine Verwandte des Finnisch-Ugrischen, genauer gesagt der Sprache der uralischen Völker ist. Von diesen trennt uns gegenwärtig eine gewaltige geographische Entfernung, leben die den Ungarn näher oder entfernter sprachverwandten Völker doch hauptsächlich in Nord- und Osteuropa sowie östlich des Urals, weit verstreut voneinander in - selbst angesichts modernster Verkehrsmöglichkeiten - riesigen Gebieten, die sich von Westsibirien bis zum Baltikum erstrecken. Diese Sprachen sprechen heute die Finnen, Esten, Karjalanen, Lappen, Liven, Ischoren und Voten des Baltikums; die am Oberlauf der Wolga lebenden Mordwiner und Tscheremissen (sie selbst nennen sich Mari), die entlang der Kama lebenden Votjaken (Udmurten) und Sürjenen (Komi); östlich des Europa nur formell von Asien trennenden Ural die Vogulen (Mansen) und Ostjaken (Chanten); östlich und nördlich von diesen die samojedischen Völker (Nenzen, Enzen, Nganassanen, Sölkupen).

Linguistischen Forschungen zufolge besteht das Ungarische schon seit vielen tausend Jahren als selbständige Sprache. Die Sprachgemeinschaft der uralischen und später finnisch-ugrischen Völker löste sich vor mehreren Jahrtausenden auf, einzelne ihrer Bestandteile aber durchliefen eine mehr oder weniger unabhängige Entwicklung. Dies erklärt, weshalb die entfernter voneinander lebenden finnisch-ugrischen Völker heute ihre Sprachen gegenseitig überhaupt nicht mehr verstehen. Kennzeichnend für den Unterschied und die Folgen der Trennungsdauer ist das Beispiel der slawischen Völker, die "erst" vor anderthalbtausend Jahren ausschwärmten und heute dennoch mehr oder weniger in der Lage sind, ohne Dolmetscher miteinander zu kommunizieren.

Ehemals lebten die einander verwandte Sprachen sprechenden uralischen Völker in nächster Nachbarschaft. Zur Bestimmung ihres einstigen Siedlungsgebietes, der Urheimat, stehen uns aus dem Urwortschatz der heutigen uralischen Sprachen rekonstruierbare biogeographische Wörter der sog. uralischen Grundsprache zur Verfügung. Ausgehend davon wurde festgestellt, daß die Gemeinschaft der uralischen Völker im 6.-4. Jahrtausend v. Chr. in der Umgebung des namensgebenden Uralgebirges, hauptsächlich an dessen Ostseite gelebt haben dürfte. Aufgrund der archäologischen Funde ist feststellbar, daß den Uraliern im 4. Jahrtausend noch größtenteils die Ostabhänge des mittleren und südlichen Abschnitts dieses ausgedehnten Gebirgsmassivs als Wohnplätze dienten. Von hier dürften einzelne Gruppen irgendwann zwischen 4000 und 3000 v. Chr. ihre Wanderung in östlicher und westlicher Richtung angetreten haben. Die nach Westen Aufbrechenden erreichten im Laufe der Zeit das Baltikum, während die nach Osten Wandernden bis in die Altai-Sajan-Region vordrangen. Die Mitglieder der ugrischen Gemeinschaft, zu der die heutigen Ob-Ugrier sowie die Vorfahren der Ungarn gehörten, blieben höchtswahrscheinlich in den Gebieten östlich des Ural - aus diesem Grund wurden die Vogulen und Ostjaken unsere nächsten Sprachverwandten.

Die uralischen Völker betrieben Naturalwirtschaft, ihre Existenzgrundlage waren das Fischen und die Jagd. Ihre Siedlungen errichteten sie an Flüssen und Seen, wo sie zur Sommerzeit in mit Birkenrinde bedeckten Zelten und im Winter in Grubenhäusern lebten. Viele Denkmäler ihrer materiellen Kultur blieben tief in der Erde bzw. im Torf der später entstandenen Moorlandschaft erhalten: geschlagene Steinwerkzeuge, aus Knochen und Holz gefertigte Gegenstände, in Tiergestalt geformte hölzerne Opfergefäße, Trinkbecher, Statuetten in Tier- und Menschengestalt kamen bei archäologischen Freilegungen ans Licht. Ihre Bewaffnung bildeten Pfeil und Bogen, im Winter bewegten sie sich auf Schlitten und Schneeschuhen fort. Spuren ihrer Vorstellungswelt und Kunst haben die an der Ostseite des Ural entdeckten Felsenzeichnungen bewahrt, auf denen sie Menschen- und Tiergestalten sowie Himmelskörper in Gesellschaft von magischen und Sippenzeichen (Tamga) darstellten.

Im Laufe des 2. Jahrtausends v. Chr. - davon zeugen sowohl linguistische als auch archäologische Funde - vollzogen sich im Leben der finnisch-ugrischen Völker bedeutende Veränderungen: auf Einfluß der südlich von ihnen lebenden und bereits Produktivwirtschaft betreibenden, uriranische Sprachen sprechenden Völkergruppen verbreiteten sich auch in ihrem Kreis die beiden wichtigsten Zweige der neuen Wirtschaftsweise, Ackerbau und Viehhaltung. Funde aus bronzezeitlichen Siedlungen und Bestattungen sind Knochen von Haustieren (Rind, Schaf, Pferd) sowie Pflanzensamen (Weizen, Gerste, Hirse). Die Blüte des zur gleichen Zeit kennengelernten Metallhandwerks fällt in das 16.-14. Jahrhundert v. Chr. In den von Finnougriern bewohnten Regionen Westsibiriens und Osteuropas verbreiteten sich Bronzefabrikate mit hohem Zinngehalt, deren Produktionsgebiet aufgrund von Gußmodellfunden die Gegend der Flüsse Ob und Irtysch gewesen sein dürfte; Zinn aber wurde zu dieser Zeit nur im Altaigebirge abgebaut. Neben dem Begriff für Zinn und Blei des ugrischen Zeitalters entstammen unter den ungarischen Metallnamen z. B. das Wort für Gold sowie einige Elemente des Wotschatzes der Tierhaltung den uriranischen Sprachen.

Beweise der ugrierzeitlichen Tierhaltung sind die Worte für Kuh und Milch. Eine wichtige Komponente neben der Verbreitung der Rinder- und Schafhaltung ist der Filz, dürfte dieser aus Wolle hergestellte dicke Stoff doch auch zur Abdeckung ihrer Sommerzelte gedient haben. Sowohl in der ungarischen als auch der Sprache der Ob-Ugrier bürgerten sich damals die Bezeichnungen für Pferd, Sattel, Zaum (= Trense) und Peitsche ein.

Im nördlichen Streifen der westsibirischen Steppe und in der baumbestandenen Steppenregion nördlich davon fanden die Archäologen aus dieser Zeit nicht mehr nur Spuren von Tierhaltung im Freien, sondern auch schon in Ställen. Ihren Bestattungssitten gemäß wurden den Vornehmen Speise-, Trank- und Tieropfer zuteil. Als Proviant auf seinem Weg ins Jenseits deponierte man neben dem Toten in verschiedenen Gefäßen Fleisch und Milch (Kumyß?). Zu Ehren der Verstorbenen wurden Rind, Schaf und Pferd geopfert, und nach dem Totenmahl gelangten die Knochen der Tiere in die Grabgrube oder einen über dem Bestatteten errichteten Hügel. Auf das Niveau ihres Ackerbaus deuten nicht nur die Mahlsteine, die Samen verschiedener Getreidesorten und Sichelfunde. Vermutlich ebenfalls ein ugrierzeitliches Lehnwort ist das ungarische Wort für Wagen; es verweist auf denselben, von den uriranischen Völkern im Süden ausgehenden kulturellen Einfluß, deren Wagenbestattungen schon aus wesentlich früherer Zeit, aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. bekannt sind. Von ihnen dürfte auch die Kenntnis des Brauchs der sog. partiellen Reiterbestattung stammen, der zu einem der charakteristischen Merkmale des landnehmenden Ungartums wird: Das Fleisch des beim Totenmahl abgetöteten Pferdes wurde verzehrt, sein abgehäutetes Fell - darin der Schädel und die Gebeine des Tieres - deponierte man neben oder über dem Verstorbenen im Grab.

Auf dem Weg zur Selbständigkeit

Die wichtigsten Stationen, die das Ungartum auf seinem Weg zu einem selbständigen Volk im Verlaufe seiner Wanderung von Ost nach West passierte, waren Westsibirien, Magna Hungaria am Lauf der Kama, Levedia und Etelköz in der südrussischen Steppe und schließlich die Endstation - das Karpatenbecken.

Das Vorungartum dürfte sich irgendwann am Ende der Bronzezeit und zu Beginn der Eisenzeit, zwischen 1000 und 500 v. Chr., in Westsibirien aus der Gemeinschaft der ugrischen Völker gelöst haben. Von da an kann von einem selbständigen urungarischen Volk gesprochen werden. Sie lebten wohl im südlichsten Teil des Siedlungsgebietes der ugrischen Völker, in der baumbestandenen Steppenregion der Gegend der Flüsse Irtysch-Ischym-Tobol. Etwa damals bildete sich in diesem Gebiet eine neue und für lange Zeit bestimmende Wirtschaftsweise heraus: die mit der Wanderung zu stets neuen Weideplätzen verbundene Tierhaltung, der Reiternomadismus. Diese flexible Lebensweise entfernte die Urungarn auch territorial von ihren ob-ugrischen Sprachverwandten. Von dieser Zeit an durften sich unsere Vorfahren Magyar (Ungar) nennen (die beiden Elemente des Wortes sind magy+er; einer Interpretation zufolge ist die Bedeutung des Volksnamens: sprechender Mensch, einer anderen Auffassung nach: Mensch-Mann).

Wichtige Elemente bei der Herausbildung des ethnischen Selbstbewußtseins waren die Sprache, die Tracht und die Bräuche - alles, was sie von anderen unterschied und ihr Zusammengehörigkeitsgefühl verstärkte. Ebenso wie ihr Glaube an den gemeinsamen Ahnen, dessen Spiegel die Ursprungssage unserer Vorfahren sein dürfte. Auch die in der Kézai'schen Chronik überlieferte Sage vom Wunderhirsch ist aller Wahrscheinlichkeit nach in jener Zeit entstanden. Südliche Nachbarn des Urungartums waren damals nämlich die den iranischsprachigen Skythen verwandten Sarmaten. Im Kreise der Skythen wurde der Gestalt des Hirsches besondere Verehrung zuteil. Die Schilde ihrer Oberhäupter schmückten Darstellungen eines Goldhirsches, und der Name der asiatischen Skythen (Saken) bedeutet übersetzt Hirschvolk.

Mit den Denkmälern des Urungartums läßt sich vermutlich die archäologische Sargatka-Kultur im Gebiet der baumbestandenen Steppe Westsibiriens (6. Jh. v. Chr. - 5. Jh. n. Chr.) in Zusammenhang bringen, für die unter anderem nomadische Produktivwirtschaft sowie die Bräuche der partiellen Reiterbestattung kennzeichnend sind. Um das 5. Jh. n. Chr. veranlaßte eine Völkerbewegung - deren Herkunft und Ablauf unbekannt sind - unsere Vorfahren zur Wanderung in Richtung Westen. Die Endstation dieser Wanderung lag im geographischen Sinne bereits auf europäischem Territorium. Es war das Gebiet zwischen dem mittleren Abschnitt der Wolga und dem Uralgebirge, wo der Dominikanermönch Julianus im Jahre 1236 Nachkommen der im Osten gebliebenen Ungarn fand, und das er Magna Hungaria, d. h. altes Ungarn nannte.

Ihre archäologische Hinterlassenschaft wurde in den 1980er Jahren unter anderem bei dem Dorf Bolsije Tigani freigelegt: In den aus dem 8.-10. Jahrhundert datierenden Gräbern fand man partielle Reiterbestattungen, ein Gesichtstuch mit silbernem Augenbesatz und andere, mit dem Metallhandwerk des landnehmenden Ungartums verwandte Gürtelbeschläge, Schmuck- und Trachtgegenstände sowie Waffen.

Die Mehrzahl des Ungartums zog wahrscheinlich um 700-750 aus Magna Hungaria in südlicher Richtung weiter, dem Lauf der Wolga folgend. Ein kleinerer Teil davon hatte seine Sprache über ein halbes Jahrtausend hinweg bewahrt; auf sie dürfte Julianus in dieser Gegend gestoßen sein. Doch noch im gleichen Jahr zerstörten die von Osten vordringenden Mongolen ihre im Gebiet des damaligen Wolga-Bulgariens liegenden Wohnplätze, und danach hört man nur noch vereinzelt etwas von den in der Urheimat gebliebenen Ungarn; vermutlich sind sie mit den sie umgebenden Völkern verschmolzen. In der Stadt Tschistopol, im Mündungsgebiet von Wolga und Kama, wurde ein aus dem Jahre 1311 stammender Grabstein mit folgender Inschrift gefunden: "Dies ist das Grab des Ismagil, Sohn des Kadis Madshar".

Levedia und Etelköz

Eine andere, in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts euroasiatische Bedeutung erlangende Großmacht war das Türkenreich. An seiner westlichen Peripherie entstand Mitte des 7. Jahrhunderts das Chasarische Khaganat, in dessen Interessensphäre ist Ende des 8. Jahrhunderts das ungarische Volk zu finden. Diese Nachbarschaft war je nachdem von engeren oder lockereren Beziehungen gekennzeichnet. Doch in den 830er Jahren muß sich das wahrscheinlich längere Zeit dauernde Abhängigkeitsverhältnis gelöst haben; eines der markantesten Anzeichen dafür ist wohl die um 838 vermutlich zum Schutz gegen die Ungarn errichtete, mit Ziegelmauern umgebene Festung Sarkel am linken Donufer.

Die Chasaren dienten dem Ungartum auf zahlreichen Gebieten als Muster, so auch im Hinblick auf das Machtgefüge. Der erste ungarische Fürst war Levedi, nach ihm benannte die Nachwelt das Siedlungsgebiet in der Dongegend "Levedia". In seinem Mitte des 10. Jahrhunderts verfaßten Werk bezeichnet der byzantinische Kaiser Konstantin VII. das Wohngebiet der Türken (=Ungarn), wo sie vor ihrem Einzug ins Karpatenbecken lebten, als Etelköz (Zwischenstromland). Eine genaue Lokalisierung der beiden Gebiete ist mit Schwierigkeiten verbunden. Auf jeden Fall kann angenommen werden, daß die Vorfahren der Ungarn das Dongebiet Anfang der 850er Jahre verlassen haben und in westlicher Richtung, in die Gegend der Flüsse Dnjepr-Dnjestr-Prut weitergezogen sein dürften, wo sich ihr Machtbereich bis an die untere Donau und die Ostkarpaten erstreckte.

Zwischenzeitlich war das Ungartum sowohl zahlenmäßig als auch in kultureller Hinsicht erstarkt, und zwar durch den Anschluß der an der Wolga lebenden, bulgarisch-türkischsprachigen Eskilen, bei denen es sich - nach Meinung einzelner Forscher - um die Ahnen des Szeklervolkes handelte. Das zweite sich ihnen anschließende Volk der Wolgabulgaren bildeten die Gruppen der Bersilen. Die Kavaren (=Rebellen), die sich in den 820-830er Jahren gegen das Chasarische Khaganat erhoben, dann aber eine Niederlage erlitten hatten, flohen ebenfalls zu den Ungarn. Vermutlich setzte man sie auf die bei den Nomadenvölkern übliche Weise als militärische Hilfsvölker ein. Um 850 allerdings dürfte sich ein bedeutender Bevölkerungsteil vom Ungartum der Dongegend getrennt haben: Nachdem sie im Bündnis mit den Chasaren von den Petschenegen besiegt wurden, ließen sich die - laut Kaiser Konstantin - Savarden südlich des Kaukasus im persischen Grenzgebiet nieder. Diese tauschten, wie wir gleichfalls aus den Berichten des byzantinischen Kaisers wissen, noch einhundert Jahre später (um 950) mit den ins Karpatenbecken gezogenen ungarischen Stämmen Gesandte aus.

Der in den großen Steppen Eurasiens entstandene klassische Reiternomadismus ist gleichbedeutend mit der wirtschaftlichen Nutzung des trockenen, von extremen klimatischen Verhältnissen gekennzeichneten Steppenlandes. Die Hirten weiden das Vieh nicht in der Umgebung ihrer ständigen Siedlungen, sondern treiben ihre Tiere zu jeder Jahreszeit in solche Gebiete, wo sie relativ saftige Weiden finden. Hierbei lassen sich zwei Grundformen unterscheiden: einmal die Wanderung zwischen den Weiden der Ebene und den Bergweiden, zum anderen der Weidenwechsel entlang von Flüssen in Richtung Nord-Süd. Im Frühjahr ziehen die Nomaden von ihren ständigen Winterquartieren in nördliche Richtung oder suchen die höher gelegenen Bergweiden auf. Den Sommer verbringen sie an abwechselnden Wohnplätzen und brechen mit Herannahen des Herbstes zu ihren ständigen Unterkünften auf. Das Winterquartier befindet sich meist an Flußmündungen oder in vor starkem Wind geschützten Tälern, wo der Schnee nicht allzu hoch liegt, damit ihn die Huftiere beiseite scharren können, um an Nahrung zu gelangen. Den ergänzenden Produktionszweig stellt in ihren Kreisen der in der Umgebung der Winterquartiere betriebene Ackerbau dar; das im Frühling ausgesähte Getreide konnte am Ende des Sommers geerntet werden. Daneben befaßten sie sich natürlich auch mit dem Fischfang und der Jagd. Grundlage ihrer Wirtschaft, und auch Möglichkeit zur Ergänzung dieser einseitigen Wirtschaftsweise durch Tauschhandel, bildeten aber in erster Linie und vor allen Dingen Umfang und Zustand ihres Viehbestandes. Das Schicksal der Herden bestimmte ihr Schicksal - ihren Reichtum oder ihre Verarmung.

Die Wirtschaftsweise des Urungartums hingegen war den biogeographischen und klimatischen Verhältnissen der trockenen Steppe weder in Westsibirien noch in Magna Hungaria in so starkem Maße ausgeliefert, da sie dort in der Waldsteppenregion lebten. Hier dürfte der um die ständigen Unterkünfte betriebene Ackerbau bereits in relativ höherem Maße zum Unterhalt beigetragen haben, so daß wohl auch während des Jahres mehr Menschen in den Winterquartieren zurückblieben. An ihren Wohnplätzen errichteten sie mannigfaltige Bauten. Schon seit dem ugrischen Zeitalter lebten die Nomadenfamilien von Frühjahr bis Herbst in mit Filz abgedeckten Zelten, oder sie wohnten und reisten ebenfalls in filzbedeckten, von Ochsen gezogenen Wagen. Im 5.-7. Jahrhundert verbreitete sich in der Steppe die Jurte, ein rundes Zelt, das wegen seiner hölzernen Gitterkonstruktion leicht auf- und abzubauen sowie gut zu transportieren war. Als Winterquartiere bauten sie sich auch weiterhin zur Hälfte in den Boden eingelassene Häuser, in denen anfangs offene Feuerstellen, später dann aus Stein oder Lehm errichtete Öfen zum Heizen, Kochen und Backen dienten. In dieser Zeit fand in ihrem Kreis auch der beim Kochen über offenem Feuer verwendete Tonkessel Verbreitung.

Wie auch die in der Dongegend freigelegten dörflichen Siedlungen des 8.-9. Jahrhunderts belegen, muß dieser Niederlassungsprozeß der Ungarn nach ihrem Umzug in das Levedia genannte Gebiet weitergegangen sein. Ein großer Teil der bulgarisch-türkischen Lehnwörter beispielsweise hängt mit dem Ackerbau zusammen: Weizen, Gerste, Pflug, Sichel, Obst, Apfel, Wein, Hopfen, Hanf, Erbse usw. Ihre Viehhaltung erweiterte sich (Ochse, Stier, Stall usw.). Besonders die ungarischen Worte für Schwein und Huhn beweisen das, hätten Borstenvieh und Geflügel doch den ständigen Wanderungen der Nomaden nicht standgehalten. Das im Etelköz (Zwischenstromland) lebende Ungartum bestand also nicht nur aus nomadisierenden Hirten, sondern auch aus einer bedeutenden Schicht von Ackerbauern. Und ihre Erfahrungen haben diese Landwirte wohl auch in den westlichsten Zipfel der Steppe, ins Karpatenbecken mitgebracht.

Von den 850er Jahren an lebte der über eine große Streitmacht (zwanzigtausend Reiter) verfügende ungarische Stammesverband im Gebiet zwischen Dnjepr und Ostkarpaten. Seit Levedia standen an seiner Spitze - nach chasarischem Muster - zwei Fürsten. Im Zuge der nach Westen gerichteten Streifzüge erkundeten ihre Reitertrupps die weiten Ebenen des Karpatenbeckens wahrscheinlich ebenso wie die allgemeinen Machtverhältnisse dort.

Die der ungarischen Landnahme, der Eroberung einer neuen Heimat im Karpatenbecken unmittelbar vorausgegangenen Ereignisse spielten sich, nach der in der Steppe üblichen Weise, in Abhängigkeit von den gerade aktuellen militärischen Kräfteverhältnissen ab. 894 schloß Leo der Weise, Kaiser von Byzanz, mit den ungarischen Fürsten ein Bündnis gegen den bulgarischen Khan Simeon und besiegte diesen in Mazedonien. Die ungarischen Streitkräfte wurden von Levente, dem Sohn Árpáds angeführt; mit Hilfe der byzantinischen Flotte setzte das Heer ans Südufer der Donau über. Nach dem Sieg über die Truppen Simeons verwüsteten sie die an der Donau gelegene bulgarische Hauptstadt Pliska sowie die Umgebung von Madara.

Noch im gleichen Jahr (894) trat der mährische Fürst Svatopluk mit der Bitte um Unterstützung gegen die Franken an sie heran. An das damals geschlossene Bündnis erinnert vermutlich die Sage vom Schimmel, wonach Árpád zum Austausch für Erde, Wasser und Gras (also den drei wichtigsten Elementen, die den Lebensunterhalt der Großtierhaltung betreibenden Reiternomaden sicherten) ein gesatteltes Pferd geschickt haben soll. In Transdanubien bereiteten die ungarischen Truppen den Franken eine schmachvolle Niederlage, danach zogen sie sich wohl ins Gebiet an der oberen Theiß zurück, um die Ankunft der von Árpád geführten Hauptstreitmacht zu erwarten. Die im Gebiet zwischen den Flüssen Wolga und Ural lebenden Petschenegen nämlich hatten den ungarischen Stammesverband zu einer gravierenden Entscheidung veranlaßt: zur Aufgabe der Siedlungsplätze im Etelköz, um das von Gebirgen gut geschützte Gebiet zu erobern. Um 893-894 traf die mit den Chasaren ständig Krieg führenden Petschenegen ein schwerer Schlag, sie wurden von den Usern zur Suche nach einer neuen Heimat gezwungen. Die Bulgaren aber, die mit dem Kaiser von Byzanz inzwischen Frieden geschlossen hatten, verbündeten sich mit den in einer Zwangslage befindlichen Petschenegen, und gemeinsam nahmen sie die an den Siedlungsplätzen im Etelköz verbliebenen Ungarn in die Zange. Nach Abzug der Hauptstreitmacht sah sich die ungarische Nachhut der Übermacht der Angreifer nicht gewachsen und flüchtete, vermutlich zum Preis vieler Menschenopfer und unter Verlust des Großteils ihres Viehbestandes, über die Pässe der Ostkarpaten ins Schutz bietende Siebenbürgen, nach Transsilvanien und in die Große Ungarische Tiefebene.

LANDNAHMEZEIT

Aufbau der Gesellschaft

Mit der Landnahme im Karpatenbecken wurde das Ungartum zum Nachbarn von Völkern, die innerhalb staatlicher Rahmen lebten, seine Beziehungen zur Welt der Steppe hingegen, deren Bestandteil auch das Ungartum vor der Landnahme war, begannen sich zu lockern.

Ihre heutige Heimat nahmen die Ungarn sowie die ihnen angeschlossenen militärischen Hilfsvölker zwischen 895 und 900 in Besitz. Damals bildeten sie zwar noch eine Stammesunion, doch bereits unter einheitlicher Führung. Der Ausdruck "Siebenungarn" in unseren Quellen bezeichnete das aus dem Verband der sieben Stämme bestehende Ungartum. In Wirklichkeit allerdings dürften es zusammen mit den drei Stämmen der Kavaren mindestens zehn gewesen sein. Dieser Stammesbund hatte - nach dem Vorbild des chasarischen Khaganats - zwei Fürsten. Großfürst war der Kende oder Kündü, neben ihm trug der andere Fürst, der Gyula, Sorge für die wichtigsten Regierungsgeschäfte und die Lenkung der Truppen. Dieses politische Gefüge nennt man Doppelfürstentum.

Im 10. Jahrhundert wird von den Quellen noch ein dritter Würdenträger erwähnt: Der Karcha (Horka) bekleidete das Amt eines Richters, das vererblich im Besitz eines der Stammesoberhäupter blieb. Die Häupter der Stämme unterstanden der Herrschaft des Fürsten.

Die Gesellschaft der landnahmezeitlichen Bevölkerung gliederte sich in folgende Hauptgruppen:

- Vornehme: die über ein großes Vermögen verfügenden, führenden Familien,

- Mittelschicht: die im Dienste der Vornehmen stehende, mehr oder weniger vermögende Schicht,

- Gemeinvolk: im Kreis ihrer eigenen Gemeinschaft lebende, teilweise über Gemeinschaftseigentum verfügende Freie,

- Knechte: im Besitz der Vornehmen befindliche, im Haushalt ihrer Herren lebende Unfreie.

Diese Gesellschaftsschichten verband ein kompliziertes System von Rechten und Pflichten.

Der Name der Vornehmen war zu dieser Zeit "bõ", ein Ausdruck für ihre politische Macht und ihr wirtschaftliches Vermögen. Eine gravierende Rolle in den Beziehungen der Stammes- und Sippenhäupter spielte die Heirat, mit der sie sich des gegenseitigen Friedens bzw. ihres Bündnisses versicherten.

Für den Schutz der Vornehmen, der Stammes- und Sippenhäupter sorgte das die Mittelschicht bildende bewaffnete Gefolge. Seine Mitglieder traten freiwillig in den Dienst und leisteten ihrem Herren einen Eid - im Gegenzug sorgte dieser für ihren Schutz, Unterhalt und ihre Unterbringung.

Das Gemeinvolk trug die Last des Unterhaltes der Vornehmen, denen es Naturalienabgaben und Arbeitsdienste schuldete. Damals dürfte sich die Gemeinschaft noch weitgehend auf blutsverwandtschaftlicher Basis organisiert haben, was Vermögensgemeinschaft bedeutete und ihre Arbeit, also ihre wirtschaftliche Tätigkeit bestimmte. Häufig nahmen sie auch Fremde in ihre Reihen auf. Führer eines Dorfes war der Dorfschulze (villicus), der zusammen mit den Alten (Senioren) die Geschicke der Gemeinschaft lenkte.

Eine wichtige Gruppe der Gesellschaft bildeten die verschiedene Arbeitsdienste leistenden Gemeinen, die sich in der Umgebung der Herrensitze niederließen und je nach ihrer Beschäftigung die Gemeinschaft eines Dorfes darstellten. Sie steuerten mit ihren Produkten und waren ihren Herren zu bestimmten Diensten verpflichtet (z.B. Huf- oder Waffenschmiede, Töpfer, Gerber, Drechsler, Sattler, Gold- und Silberschmiede).

Freie waren im 11. Jahrhundert formell zwar noch gleichberechtigt, doch in ökonomischer Hinsicht gab es zwischen ihnen bereits große Unterschiede.

Die verarmten Schichten gerieten immer mehr in ein Abhängigkeitsverhältnis zu den Führern, viele verloren ihre Gleichberechtigung und Freiheit und sanken in die Gruppe der Knechte (servus) ab. Zu dieser Gruppe dürfte auch das Gros der im eroberten Karpatenbecken ansässigen Ethnika - die awarische und slawische Einwohnerschaft - bzw. die von den Streifzügen mitgebrachten Gefangenen gehört haben.

Nach und nach kam die führende Rolle der auf persönlichen Bindungen beruhenden Zentralmacht immer mehr zur Geltung, und Ende des 10. Jahrhunderts hatten sich die Bedingungen zur Gründung eines westlich geprägten, d. h. auf ständigen Institutionen basierenden und das Territorium des gesamten Landes umfassenden Staates herausgebildet.

Niederlassung, Streifzüge

In der ersten Phase der Landnahme drangen die Ungarn bis zur Linie der Flüsse Donau-Gran vor, die für sie eine natürliche Grenze darstellte. Westlich davon geboten starke Nachbarn, die Ostfranken und Mähren, einer weiteren Expansion Einhalt. Fünf Jahre später (900) nahmen sie auch Transdanubien in Besitz. Mehrere Ereignisse erleichterten ihnen die Eroberung Pannoniens. Die Mähren schwächte nach dem Tode Svatopluks (894) der Thronfolgestreit seiner beiden Söhne. Gleichzeitig ging der ostfränkische König Arnulf mit den Ungarn ein Bündnis gegen den lombardischen Herrscher Berengar ein, den sie gemeinsam besiegten. Nach dem Tod Arnulfs nach Pannonien zurückgekehrt, sahen die Ungarn die Zeit gekommen, ihr Gebiet zu erweitern. Die landnehmenden Ungarn besetzten in erster Linie die Ebenen und dehnten ihre Siedlungen dann schrittweise bis an die Berge aus. Ihre Wahl bestimmten vorrangig strategische Gesichtspunkte. Sie waren bestrebt, sich an Gewässern, in Flußtälern oder in von Sümpfen geschütztem Gelände niederzulassen.

Späten Chroniken zufolge befanden sich die Wohnplätze der Fürsten am mittleren Abschnitt der Donau - das Zentrum Árpáds war die Insel Csepel, die Unterkunft von Kurszán hingegen Óbuda. Die bedeutendsten zeitgenössischen archäologischen Funde bezeugen jedoch, daß als fürstliches Siedlungsgebiet in der Zeit nach der Landnahme in erster Linie die Obere Theißgegend in Frage kommt.

Der Sicherung des Territoriums dienten die planmäßige Ansiedlung, die Verteidigung der Grenzen sowie der Grenzverhau. Im Zeitraum nach der Landnahme boten die Schutzzone und der Grenzverhau vor allem vor den aus Osten und Süden erfolgenden Angriffen Schutz. Nach Westen nämlich richteten die Ungarn ihre eigenen Angriffe oder Feldzüge - nicht selten als Verbündete eines der westlichen Herrscher. Diese Feldzüge bestimmten im wesentlichen die ungarische Außenpolitik des 10. Jahrhunderts.

Von den Forschern wurden diese Streifzüge - den verschiedenen Zeitaltern der Geschichtsschreibung entsprechend - auf unterschiedliche Weise beurteilt. Nach heutiger Aufassung handelte es sich bei diesen Streifzügen in erster Linie um Beutezüge. In Form von Kampf, Raub, Beute und Tributen beschaffte man sich aus den fremden Ländern jene Luxusartikel, wertvollen Gegenstände und teueren Waren (darunter Gefangene), die die eigene Gesellschaft nur zum Teil oder gar nicht in der Lage war hervorzubringen.

Auf Streifzüge gingen nur diejenigen unter den ungarischen Stämmen, die nahe zur Süd- und Westgrenze wohnten. Die Heere westeuropäischer Staaten bestanden damals in erster Linie aus schwerbewaffneter Reiterei. Im Gegensatz dazu waren die Ungarn schnell und beweglich, und dies war lange Zeit einer der Gründe für ihren Erfolg.

Nach erprobter Taktik strebten sie danach, die schwere Reiterei von allen Seiten einzukreisen und mit Pfeilen unter Beschuß zu nehmen. Dann täuschten sie Flucht vor, wendeten plötzlich um und lockten so den Gegner in die Falle. Im Laufe ihrer Streifzüge brandschatzten sie viele reiche, kulturell hochentwickelte europäische Regionen und standen fast ein Dreivierteljahrhundert lang mit Europa im Krieg. Es waren mehrere Faktoren, die den ungarischen Erfolg begünstigten; der oben erwähnte überraschungsartige Kampfstil zu Pferde, die die Länder von innen schwächende feudale Anarchie sowie die Europa entzweienden ständigen Kriege. Doch die tatsächlichen Kräfteverhältnisse mußten die Kriegführung der Ungarn früher oder später zum Scheitern verurteilen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sich die Länder Europas verbünden und gemeinsam gegen sie auftreten würden.

Eine widersprüchliche Wirkung übten die Streifzüge auch auf die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse aus, sie trugen zur weiteren Differenzierung des Ungartums bei. Die Führungsschicht der Gesellschaft wurde immer vermögender: Anfangs erbeuteten sie im Laufe der Streifzüge noch Silber, wertvolle Stoffe oder Tiere, später verpflichteten sie die besiegten Herrscher zur Tributzahlung - all das festigte ihre Macht. Um Tribut einzutreiben, brachen sie 933 auch nach Deutschland gegen Heinrich I. auf. Der aber war auf den Angriff der Ungarn vorbereitet und fügte ihnen bei Merseburg eine schwere Niederlage zu.

Die Merseburger Schlacht bedeutete noch nicht das Ende der Streifzüge, doch sie erschütterte den Glauben an die Unbesiegbarkeit der Ungarn. Die Katastrophe traf sie dann im Jahre 955 bei Augsburg. Nach einem drei Tage andauernden blutigen Ringen ließ der bayerische Herzog Heinrich drei der gefangen genommenen ungarischen Führer (Bulcsú, Lél, Súr) erhängen. Die psychologische Wirkung dessen war unermeßlich. Denn nach ungarischem Glauben wurden die hingerichteten Ungarn im Jenseits zu Dienern der Deutschen, ihre Seelen zu deren Helfern.

Diese Niederlage hatte bedeutende Veränderungen in der ungarischen Außenpolitik zur Folge. Großfürst Fajsz wurde von den Häuptern der Stämme "abgelöst" und an seiner Stelle Taksony an die Spitze des Stammesverbandes gewählt. Taksony änderte Inhalt und Ziel der ungarischen Außenpolitik gundlegend. Er machte den Feldzügen in Richtung Westen ein Ende, er setzte anstelle des Angriffs auf die Verteidigung. Er ließ den westliche Grenzverhau besser befestigen und rief petschenegische Krieger ins Land. Doch das ungarisch-deutsche Verhältnis blieb weiterhin gespannt. Taksony war, selbst unter Hinnahme territorialer Verluste (z B. mit der Aufgabe Nordmährens), um Erhaltung des Friedens und Umgehung eines Krieges bemüht. Anders entwickelte sich die Situation in südlicher Richtung.

In den nachfolgenden 15 Jahren richteten die Ungarn ihre Angriffe nach Süden, gegen Italien, Bulgarien und Byzanz. Der byzantinische Kaiser stellte, nachdem er von der Niederlage bei Augsburg erfahren, die Tributzahlung ein, weshalb die Ungarn 959 unter Führung des Apor gen Byzanz zogen. An diesen Feldzug erinnert wahrscheinlich das im Laufe der Überlieferung reichlich ausgeschmückte Epos über den Helden Botond, der, erbost darüber, daß der Kaiser nicht bereit war, mit ihnen zu verhandeln, mit seinem Streitkolben das Tor von Byzanz einschlug - in der zeitgenössischen Diplomatie eindeutig das Zeichen der Kriegserklärung.

Zum letzten nach Süden, gegen Byzanz gerichteten ungarischen Feldzug kam es 970 im Bündnis mit den Russen, Bulgaren und Petschenegen. Die verbündeten Heere "überquerten das Balkangebirge, und nachdem sie in der Nähe der Mauern von Arkadiupolis ihr Lager aufgeschlagen hatten und dort der kriegerischen Auseinandersetzung harrten, plünderten und brandschatzten sie ganz Thrakia...". Das byzantinische Heer rieb zunächst die Streitmacht der Peschenegen auf, konnte aber die lange unentschieden tobende Schlacht schließlich zu seinen Gunsten entscheiden.

Mit der Niederlage bei Arkadiupolis ging die Zeit der ungarischen Streifzüge zu Ende. Großfürst Géza erkannte, daß man die militärischen Aktionen einstellen müsse, da die wesentlich stärkeren Großmächte das Ungartum ansonsten zerbrechen würden. Auch für die Probleme im Inneren mußte eine Lösung innerhalb des Landes gefunden werden. Früher gelangten die Vornehmen auf Kosten anderer Staaten zu Reichtum, von nun an versuchten sie das in ihren eigenen Gebieten. Dazu jedoch war bereits eine andere Struktur erforderlich: die innen- und außenpolitische Lage machte die Gründung eines ungarischen Staates immer dringender.

ZEITALTER DER STAATSGRÜNDUNG

Großfürst Géza

In den 970er Jahren nahm Großfürst Géza - gezwungen durch die veränderte innen- und außenpolitische Situation - den Glauben der Sieger an, das Christentum, setzte das Bekehrungswerk im Lande in Gang und begann gleichzeitig mit dem Ausbau der Zentralmacht. Zu Kriegen im Ausland kam es während seiner 25jährigen Regierungszeit als Fürst kaum. Als Bekräftigung seiner auf Frieden ausgerichteten Politik dienten die zur damaligen Zeit übrigens selbstverständlichen dynastischen Ehen, die seine Kinder mit den Angehörigen ausländischer Herrscherfamilien schlossen.

Seine älteste Tochter wurde die Frau des polnischen Fürsten Boleslaw des Tapferen, die zweite Tochter vermählte er mit dem bulgarischen Thronfolger Gavril Radomir. Besonders wichtig war die Klärung des Verhältnisses zu den Deutschen; sein Sohn Vajk, der in der Taufe den Namen Stephan erhielt, heiratete Gisela, die Tochter des Bayernherzoges Heinrich des Zänkers, und wurde damit der Schwager des neuen Herzogs von Bayern, Heinrichs IV. Seine dritte Tochter gab Géza dem venezianischen Dogen Otto von Orseolo zur Frau. Friedliche Beziehungen kennzeichneten auch sein Verhältnis zu den Ländern im Osten, - so zu den Fürsten der Kiewer Rus und zu den Bulgaren, zu denen Mihály (Michael), der jüngere Bruder Géza's, durch seine Heirat mit einer bulgarischen Prinzessin den Weg geebnet hatte.

Der Übertritt zum Christentum warf die grundlegende Frage auf, ob Ungarn sich der Ost- oder der Westkirche anschließen soll. Ein Teil der ungarischen Vornehmen hatte sich schon früher (um 948) zum byzantinischen Christentum bekannt. Doch schließlich wurde die Entscheidung von der aktuellen außenpolitischen Lage bestimmt. Das letzte Kapitel der ungarischen Streifzüge zielte in Richtung Südosten, und infolge dessen kühlte sich das Verhältnis zu Byzanz ab. Eine Warnung dürfte dem Fürstentum Ungarn außerdem gewesen sein, daß der byzantinische Kaiser die politische und religiöse Selbständigkeit Bulgariens aufhob.

Als Byzanz und das deutsch-römische Kaiserreich direkte Nachbarn Ungarns wurden, sah Großfürst Géza in der Orientierung nach Westen die vielversprechendere Stütze. Otto I. hatte nämlich erkannt, daß, wenn er die Sache der Ungarn unterstützt, er seinen eigenen politischen Einfluß in diesem Raum verstärkt. So wählte der Kaiser mit dem Rat und unter Mitwirkung seiner unmittelbaren Anhänger die Mitglieder der ungarländischen Mission aus. Für das Amt des Missionarbischofs fiel seine Wahl auf den Sankt Gallener Prunwart (den späteren hl. Bruno). Im Herbst 972 wurde der Mönch Bruno also vom Mainzer Erzbischof zum Bischof der Ungarn geweiht, und er hat viele Heiden auf den Weg des wahren Glaubens geführt. Unter anderem taufte er auch Großfürst Géza und dessen Familie. Géza erhielt in der Taufe den Namen Stephan. Seine Gemahlin Sarolt hingegen war durch den Einfluß des griechischen Bischofs Hierotheos schon als Kind Christin geworden.

Angesichts der von Byzanz drohenden Gefahr war der ungarische Großfürst auf die politische, moralische und eventuell militärische Hilfe des deutschen Kaiserreiches angewiesen. Für die Ungarn bedeutete die Annahme des Christentums gleichzeitig ein kulturelles und politisches Ereignis. Zur Herrschaftszeit Géza's gab es keine Streifzüge mehr, damit verebbten aber auch die Quellen zur Beschaffung reicher Beute. All die Güter, die man sich bis dahin im Ausland beschafft hatte, mußten nun aus heimischen Quellen gesichert werden. Nur ein Teil der unter Waffen stehenden Gruppen konnte seine Unabhängigkeit bewahren. Diejenigen, deren militärische Dienste überflüssig wurden, verpflichtete man zu verschiedenen anderen Dienstleistungen. Im Falle bestimmter Siedlungen verbreitete sich das Eintreiben eines obligatorischen Geschenkes und des Zehnten in Form von Naturalien oder Produkten. So wuchs in der Umgebung der fürstlichen Herrenhöfe die Zahl der Dörfer, in denen das Hofgesinde lebte (Köche, Gold- und Silberschmiede, Hufschmiede). Ein Teil der abgabepflichtigen Produkte gelangte auf ausländische Märkte, der Vornehmenschicht aber stand die Möglichkeit offen, die früher durch Raub erbeuteten Luxusartikel von Händlern zu erwerben. Die Einkünfte aus den heimischen Zöllen (deren Haupteinnahmequelle die Gewinne der Salz- und Silbergruben bildeten) und verschiedenen Fährstellen standen dem Großfürsten zu. Die Verbreitung der neuen Religion, die sich nicht frei von Gewalt vollzog, bzw. das Drängen nach Schaffung einer neuen inneren Ordnung stießen bei einem Teil der Freien auf Widerstand, und auch von den Stammes- und Sippenoberhäuptern wurden diese Bestrebungen nicht unbedingt begrüßt.

Zur Realisierung seiner Pläne stützte sich Großfürst Géza vor allem auf die deutschen Ritter und die Kirchenmänner seiner unmittelbaren Umgebung. Seine Zentralisierungsbestrebungen konnte er nur mit einem starken militärischen Gefolge verwirklichen. Anstelle der heidnischen Stammes- und Sippenhäupter berief er deutsche Ritter in den Fürstenrat, die ihn bedingungslos unterstützten und die gelegentlich auch das Vermögen der rebellierenden Führer erhielten. Diese fremden Ritter bildeten den Kern der schwerbewaffneten Streitmacht. Die ungarischen Krieger waren in erster Linie mit der damals üblichen leichten Bewaffnung ausgerüstet. Zum Heer des Fürsten dürften außerdem militärische Hilfstruppen, unter anderem Petschenegenkrieger, gehört haben.

Géza verfolgte das Ziel, seinem Nachfolger ein Land zu hinterlassen, das unabhängig von allen äußeren Mächten ist. Gleichzeitig führte die Frage der Thronfolge am Fürstenhof zu Diskrepanzen: Nach uraltem Brauch durfte Koppány die Macht beanspruchen, der Herrscher aber erwählte seinen erstgeborenen Sohn zum Nachfolger. Der Konflikt innerhalb der fürstlichen Familie brach nach dem Tod Géza's im Jahre 997 aus.

Herrschaft König Stephans

Die Bemühungen des Großfürsten Géza, eine feste Staatsmacht zu etablieren und seinem Sohn die Thronfolge zu sichern, waren nur teilweise erfolgreich, mußten sich in den einen oder anderen Teil des Landes doch mehrere Mitglieder der Fürstenfamilie teilen. So erhob Herzog Koppány ebenfalls Anspruch auf die Herrschaft. Früher galt in der ungarischen Thronfolge das Prinzip, daß der älteste lebende Bruder die Macht übernimmt. Darüber hinaus konnte Koppány dem Brauch zufolge neben der Macht auch die Hand Sarolts, der Witwe des Großfürsten, beanspruchen. Der Wille Géza's, sein erstgeborener Sohn möge den Thron erben, bedeutete einen Bruch mit dem uralten Recht.

Koppány griff zu den Waffen, und in Transdanubien schlossen sich ihm viele an. Die Aufständischen vertraten Glauben und Ordnung nach althergebrachter Art, die seit Urzeiten gewährten Freiheitsrechte, die Selbständigkeit der Stämme, die heidnische Religion.

Koppány zog mit seinen Kriegern nach Veszprém, wo Sarolt ihren Sitz hatte. Auch Stephan bereitete sich auf den Angriff vor; noch vor der Schlacht statteten ihn seine Anhänger durch Angürten eines Schwertes mit der Großfürstenwürde aus. Anschließend brach er mit seiner Streitmacht, in der sowohl ungarische als auch ausländische Verbände kämpften, von der Burg Esztergom (Gran) nach Veszprém auf. Die deutschen Ritter (principes) Hont und Pázmány befehligten Stephans Leibgarde. An der Spitze des Heeres stand Vencellin, ein schwäbischer Gast (hospes), dem es im Laufe des Kampfes vor Veszprém gelang, Koppány zu töten. Nach dem Sieg wurden die ihm zu Hilfe geeilten Ritter von Stephan reich belohnt. Den Leichnam Koppánys ließ er vierteilen und zur Abschreckung an vier Burgtoren zur Schau stellen; die ins transdanubische Székesfehérvár (Stuhlweißenburg), Veszprém und Gyõr (Raab) sowie ins siebenbürgische (Gyula)Fehérvár (Karlsburg) gesandte Warnung aber galt dem ganzen Land. So wollte er all jene einschüchtern, die gedachten, sich der von ihm vertretenen neuen Ordnung zu widersetzen.

Die am Hofe weilenden Fremden trafen überwiegend zusammen mit Gisela ein und spielten nicht nur bei bewaffneten Auseinandersetzungen eine entscheidende Rolle. Mindestens ebenso wichtig war ihre Tätigkeit im kirchlichen und politischen Bereich, sie berieten den Herrscher bei seinen Regierungsgeschäften. Als es zur Bildung der Gespanschaften und Burgkomitate kam, konnte man im Verwaltungswesen das entwickelte westliche Modell übernehmen. Es mußten solche Zentren geschaffen werden, die zur Festigung der Macht des Königs beitrugen; dies aber waren die Burgen.

Die Versorgung der Burgen erfolgte durch die burgeigenen Güter und das dort ansässige Gesinde. Ein Großteil der Grundbesitzungen lag in der Nähe der Burg, aber auch entferntere Gebiete dürften dazu gehört haben. Das Leben der Burg lenkte der Burggespan: er sprach Recht, nahm die Steuern ein, führte die waffenfähigen Männer in den Kampf. Er stand über den Burgsassen, die die Stütze des neuen Machtgefüges darstellten. Aus ihren Reihen kamen die Beamten der Burgorganisation, sie bildeten das Gros der im Landesheer Dienenden. Das zur Burg gehörende Gemeinvolk hatte rechtlich zwar seine Freiheit bewahrt, doch war es auf ewig an den Dienst in der Burg gekettet. In erster Linie befaßten sie sich mit Ackerbau und Viehzucht, nur ein bestimmter Teil von ihnen ging zum Militär. Sie zahlten Steuern in Form von Geld und Naturalien. Die Einkünfte flossen in die Kassen des Herrschers und des Gespans (im Verhältnis 2/3 zu 1/3).

Der königliche Hof ging häufig auf Reisen. Bei solchen Gelegenheiten quartierte sich die zahlreiche Begleitung in den Burgen bzw. den umliegenden Dörfern ein, und das Burgvolk war verpflichtet, sie zu versorgen. Tat es das nicht, durfte stattdessen Quartiergeld (descensus) von ihm gefordert werden.

Der Gespan und seine Leute kassierten an den Grenzen des Komitats Straßenzölle und an den Übergangsstellen der Flüsse Brückenzölle. Am Fuße der Burg, außerhalb der Burgmauern, fand an einem bestimmten Tag der Woche ein Wochenmarkt (vásár) statt. Anfangs war dies der Sonntag (daher im Ungarischen die Bezeichnung "vasárnap"). Mit Verbreitung des Christentums aber wurde dieser Tag zum Feiertag - am Sonntag durfte nicht gearbeitet werden, die Dorfbewohner gingen zur Kirche -, und man verlegte den Wochenmarkt auf einen beliebigen anderen Wochentag.

Aufbauend auf den Burggespanschaften entstanden die Burgkomitate, die in erster Linie für Verwaltungs- und nicht für militärische Aufgaben zuständig waren. Das slawische Wort megye (Komitat) bedeutet Mark/Gemarkung. Die Gemarkungen der im Entstehen begriffenen Komitate wurden von den Burgen, Bistümern und den damals noch existierenden Stammesgebieten bestimmt. Im Gegensatz zu den Gespanschaften, bei denen es sich um zusammenhängende Besitztümer handelte, innerhalb deren Grenzen die Untertanen des Königs sowie der kirchlichen und weltlichen Großgrundbesitzer lebten. Die Zahl der Burgkomitate dürfte 35-45, also geringer als die der Burggespanschaften gewesen sein. An ihrer Spitze standen die Komitatsgespane, die vom König ernannt wurden.

Nach seinem Sieg über Koppány und der Umstellung des Verwaltungswesens hielt Fürst Stephan die Zeit für gekommen, seine Macht zu festigen und den Königstitel zu erlangen. Im Herbst des Jahres 1000 schickte er deshalb Gesandte zum Papst mit dem Auftrag, um Krone und Königstitel zu bitten. Für ihn war es wichtig, daß er nicht vom deutschen Herrscher, sondern vom Papst Unterstützung erhielt. So wurde er im Hinblick auf kirchliche Fragen zwar von Rom abhängig, jedoch kein Vasalle des Deutschen Reiches. Papst Silvester II. erfüllte die Bitte Stephans - im Einvernehmen mit Kaiser Otto III.

Bei Anbruch des neuen Jahrtausends - den verschiedenen Zeitrechnungen zufolge entweder am 25. Dezember 1000 oder am 1. Januar 1001 - krönte man Stephan in Esztergom (Gran) zum König, und damit war Ungarn in die christliche Gemeinschaft der europäischen Völker aufgenommen. Nun konnte in dem jungen Königreich auch der Aufbau einer Kirchenorganisation beginnen.

Zu Ostern des Jahres 1001 gründete der Papst die Erzdiözese Esztergom (Gran) und ließ Stephan freie Hand zur Organisierung weiterer Bistümer. Der erste Erzbischof war Radla, ihm folgte Asztrik, der frühere Bischof von Kalocsa. König Stephan gründete zehn Bistümer und sicherte auch ihren Unterhalt. Die Kirche verfügte über bedeutende Ländereien, die ihren ökonomischen Hintergrund bildeten. Daneben wurden sowohl die Zahlung eines Kirchenzehnten als auch der Bau von Kirchen und unter anderem der Kirchgang gesetzlich geregelt.

König Stephan betrachtete seine Macht als von Gott kommend; so erscheint es in seinen Urkunden, aber auch in der Einführung zu seinem ersten Gesetzbuch. Die königliche Macht symbolisierten veschiedene Insignien. Auf dem ursprünglich als Meßgewand gefertigten späteren Krönungsumhang aus dem Jahre 1031 sind die Krone, der Landesapfel und die Lanze zu sehen. Weitere Insignien waren das Schwert und das Zepter sowie das in späteren Jahrhunderten hinzugekommene Schwurkreuz.

Bei Gründung des Königreiches Ungarn konnte das Land seine staatliche Unabhängigkeit, also Souveränität bewahren. Ausdruck verlieh Stephan seiner Macht, indem er Geld prägen ließ, Gesetze erließ und Urkunden ausfertigte.

Die nach deutschem Muster einsetzende ungarische Münzprägung wirft zahlreiche strittige Fagen auf. Stephan schreibt die Forschung im allgemeinen zwei Prägungen zu. Eine davon ist der Denar; auf seinem Avers befindet sich die Umschrift LANCEA REGIS (die Lanze des Königs) mit einer Hand, die eine Flügellanze hält; auf dem Revers ist die Umschrift REGIA CIVITAS (königliche Stadt) und in der Mitte die Darstellung einer Kirche zu sehen. Nach den bislang ans Licht gekommenen Funden zu urteilen blieben davon nur wenige Exemplare erhalten. Die zweite Prägung ist der Obolus (Halbdenar): auf seinem Avers kann man die Umschrift STEPHANUS REX (König Stephan), auf dem Revers aber das auf Esztergom (Gran) bezogene REGIA CIVITAS lesen. Von diesem Münztyp wurde eine große Anzahl gefunden, die die Annahme nahelegt, daß dieses Zahlungsmittel im ganzen Land verbreitet war und nicht nur im Binnen-, sondern auch im Außenhandel in Umlauf gewesen sein dürfte.

Auch in der Gesetzgebung läßt sich der deutsche Einfluß erkennen. Zwei Gesetzbücher werden Stephan zugeschrieben, die insgesamt 56 Paragraphen umfassen. Allerdings gibt es kein solches Schriftstück, das alle diese Paragraphen enthielte. Wahrscheinlich hat man das Material mit den königlichen Bestimmungen erst nach dem Tode Stephans in die Form von Gesetzbüchern gekleidet. Allgemein verbreitete Auffassung ist, daß die Paragraphen des ersten Gesetzbuches noch aus den Anfangsjahren seiner Herrschaftszeit stammen, während er die des zweiten Gesetzbuches formulierte, als sich sein Leben dem Ende zuneigte; eine diesbezügliche Datierung jedoch ist darin nicht zu finden. Der Admonter Codex aus dem 12. Jahrhundert gliedert die Gesetze in zwei Teile: Den ersten Teil bildet das an seinen Sohn adressierte Büchlein, in welchem er diesen über die Sitten belehrt (Ermahnungen), der zweite Teil beinhaltet die Strafbestimmungen.

Die Gesetzgebung erfolgte im engen Kreis des den Kronrat bildenden Gremiums. Dem Kronrat (senatus) gehörten die Episkopalversammlung und die Gespane an, deren führende Vertreter der Erzbischof von Esztergom (als Vorsitzender des Episkopats) sowie der angesehenste unter den Gespanen, der Palatin, waren. Ihr Ratschlag half dem König bei seiner Entscheidungsfindung, durfte den königlichen Willen allerdings nicht einschränken.

Neun mit dem Namen Stephans gekennzeichnete Urkunden sind uns erhalten geblieben. Bei den meisten handelt es sich um Fälschungen aus dem 13. - 17. Jahrhundert, aber ein Teil von ihnen hat Elemente des 11. Jahrhunderts bewahrt. Lediglich drei authentische Urkunden können an das Zeitalter Stephans gebunden werden (die Gründungsurkunde der Abtei Pannonhalma, die Gründungsurkunde der Diözese Pécs /Fünfkirchen/ sowie die Urkunde des Bistums Veszprém). Diese Urkunden wurden von Schreibern der Kanzlei Kaiser Ottos III. ausgefertigt, die sich nach dem Tod des Kaisers, am 23. Januar 1002, in Ungarn niederließen. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Handschriften läßt sich besonders das Schaffen des Heribert C verfolgen, der die Gründungsurkunde von Pannonhalma formuliert und mit seinen charakteristischen Zierbuchstaben der Nachwelt die Gedanken König Stephans überliefert hat.

Mit Hilfe der wichtigsten zeitgenössischen Quellengruppe, der Gesetze, kann die Struktur der stephanzeitlichen Gesellschaft skizziert werden, die sich in zwei Teile gliederte; als grundlegendes Kriterium der Unterscheidung galt, ob der Mensch Freier (liber) oder Unfreier (servus) war.

Die in juristischer Hinsicht einheitliche Gesellschaftsschicht der Freien untergliederte sich weiter. An der Spitze der Machtpyramide stand der König (rex); seine unmittelbare Umgebung bildeten die Vertreter der Aristokratie, die Mitglieder des weltlichen und kirchlichen Hochadels. Entsprechend ihrer Vermögenslage unterschieden die Gesetzte daneben folgende Gruppen von Freien: Gespan (comes), Ritter (miles), Gemeiner (vulgaris). Die die Mittelschicht bildenden Ritter (milites) leisteten Waffendienste und hatten Vermögen (Häuser, Ländereien, Knechte). Das Vermögen der Gemeinen (vulgari) war unbedeutend (ihr Pferd, ihre Waffen); sie hatten pro Familie die sog. Herdsteuer, den Denar der Freien zu entrichten. Leicht konnte es geschehen, daß sie verarmten, womit sie immer mehr ihrer persönlichen und politischen Rechte verloren und langsam auf die Ebene der Unfreien absanken.

Den Knechten (servi) stand keines jener persönlichen und politischen Rechte zu (Recht auf freie Eheschließung, Wahl des Wohnortes, testamentarische Verfügung, Tragen von Waffen, Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten), die unter dem Namen öffentliche oder Freiheitsrechte (aurea libertas) zusammengefaßt werden können.

Angriffe gegen die neue Ordnung

Nach der Krönung wurde Stephan der König Ungarns, in Wirklichkeit aber erstreckte sich seine Herrschaft nur auf West- und Nordungarn. Im östlichen Landesteil standen seiner Politik der Landesvereinigung und Zentralisierung bedeutende Kräfte gegenüber.

Als ersten gelang dem König - im Jahre 1003 - seinen Onkel mütterlicherseits, den in Siebenbürgen herrschenden Gyula, zu unterwerfen. Der Gyula und sein Volk lebten nach heidnischen Sitten, er verweigerte den Gehorsam und war bestrebt, ein selbständiges, unabhängiges Fürstentums zu errichten. Stephan selbst führte den Feldzug gegen den abtrünnigen Gyula an, der sich dem Heer seines Verwandten letztendlich doch nicht entgegenstellte und sich ergab. König Stephan entzog ihm die Herrschaft über die Provinz - womit er die Macht über ganz Siebenbürgen erlangte - und gründete anschließend das Bistum Siebenbürgen.

Der nächste Gegner Stephans im Laufe der Kämpfe um die Bildung eines einheitlichen Staates war Ajtony, der in dem von den Flüssen Körös und Theiß, der unteren Donau und dem Siebenbürgischen Mittelgebirge begrenzten Gebiet eine eigene Herrschaft aufgebaut hatte. Ajtony war zwar der Ostkirche beigetreten, führte aber - wie noch so viele zu dieser Zeit - ein heidnisches Leben. Er widersetzte sich dem König, trat im eigenen Gebiet als souveräner Herrscher auf. Das königlich Heer zog um 1008 unter Führung von Csanád gegen ihn ins Feld und trug den Sieg davon. Im Gebiet Ajtonys wurde zunächst das Komitat Csanád und 1030 dann die Diözese Csanád gegründet, deren erster Bischof der aus Venedig stammende Gerhard (Gellért) war.

Durch eine Reihe weiterer militärischer Siege gelang es Stephan schließlich, im Karpatenbecken ein politisch und religiös einheitliches Staatsgefüge zu schaffen. Da ihm die Lösung der inneren Probleme sehr viel Energie abverlangte, setzte er in den Außenbeziehungen des Landes die Friedenspolitik seines Vaters fort. Mit dem deutschen Kaiserreich, mit Venedig und Byzanz ging er Bündnisse ein. Kam es dennoch zum Kampf, erwies er sich immer als erfolgreicher Feldherr. Im Falle eines Kriegszuges konnte der ungarische König auf seine eigene Streitmacht, die Militärkraft der Burgkomitate, die militärischen Gefolgschaften der weltlichen bzw. kirchlichen Obrigkeiten sowie mit der Hilfe einzelner privilegierter Völker rechnen.

Als Verbündeter von Byzanz errang König Stephan 1015 einen Sieg über die Bulgaren. Im Jahre 1017 drangen polnische Truppen in Ungarn ein, um Gyula zu Hilfe zu eilen, erlitten jedoch eine Niederlage. 1018 schloß der ungarische König mit dem Fürsten Polens Frieden. Ein gutes Verhältnis entwickelte sich nach 1019 zwischen Ungarn und dem Herrscher von Kiew, Jaroslaw dem Weisen. Als Beweis dessen wurden russische, warägische Krieger an den Hof Stephans entsandt, die man in die königliche Leibgarde eingliederte, an deren Spitze Herzog Emmerich stand. Nach dem Zusammenbruch Bulgariens im Jahre 1018 trat auf dem Balkan Ruhe ein. Von da an hatten Ungarn und Byzanz bis zum Ende des 12. Jahrhunderts eine gemeinsame Grenze.

Der von den Zeitgenossen in ganz Europa geschätzte Herrscher öffnete nach 1018 auch den ungarischen Abschnitt der Pilgerstraße nach Jerusalem; in diesem Abschnitt standen die Reisenden unter seinem Schutz. Damit schaltete sich Ungarn in den wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Kreislauf zwischem dem östlichen und westlichen Teil Europas ein. Da diese Pilgerroute nicht an Esztergom (Gran) vorbeiführte, schuf sich Stephan in Székesfehérvár einen neuen Sitz, wo er eine Kathedrale mit ansehnlichen Ausmaßen erbauen ließ. Die Kirche sollte als königliche Kapelle und Begräbnisstätte dienen. An diesem Königssitz fanden in späterer Zeit die jährlichen Gerichtstage statt, wo ein jeder dem König sein Anliegen vortragen konnte.

Im Jahre 1030 galt es für das Königreich Ungarn, eine der größten Kraftproben zu bestehen: Unter Führung Kaiser Konrads traf das Land ein Angriff von deutscher Seite, und gleichzeitig damit griffen auch die Böhmen an. Ziel des Kaisers war es, sich Ungarn zum Vasallen zu machen und die Grenzen des Karolingerreiches wiederherzustellen. Doch das deutsche Heer mußte eine Niederlage einstecken. Das gut ausgebaute Grenzverhausystem und die mithilfe der Taktik der verbannten Erde hervorgerufene Hungersnot rieben die gegnerische Streitmacht auf und zwangen sie zur Umkehr. Im Zuge ihrer Verfolgung nahm Stephan auch Wien ein. Der 1031 besiegelte deutsch-ungarisch-böhmische Frieden brachte dem ungarischen Königreich eine Erweiterung seines Territoriums entlang der Flüsse Leitha und March.

Was die Thronfolge anbelangt, hielt Stephan die Eignung zum Herrschen (Idoneitas) für das wichtigste Kriterium, wie es auch in seinen Ermahnungen zu lesen ist. In seinen letzten Lebensjahren stand der König diesbezüglich vor einer schwierigen Entscheidung. Der ältere seiner beiden Söhne, Otto, war früh verstorben. So wurde Emmerich der Thronfolger, dem er durch den gelehrten Bischof Gerhard eine sorgfältige Erziehung zuteil werden ließ. 1031 traf die königliche Familie und damit das ganze Land ein schwerer Schlag: Herzog Emmerich kam bei einer Eberjagd ums Leben.

Nach dem Tod seines zweiten Sohnes mußte sich Stephan schleunigst nach einem neuen Thronfolger umsehen. Schließlich setzte er als Nachfolger seinen Neffen Peter von Orseolo ein, der aus der Ehe einer seiner Schwestern mit dem Dogen von Venedig hervorgegangen war und nach dem Sturz seines Vaters in Italien seit 1026 am ungarischen Königshof lebte. König Stephan adoptierte ihn. Mit dieser Entscheidung zerstörte er die Hoffnungen, die Vazul und Ladislaus Szár, die beiden Söhne seines Onkels Mihály, in bezug auf die Thronfolge gehegt hatten.

1032 versuchten sie, den kränkelnden König bei einem Anschlag zu beseitigen. Doch der Plan mißlang und zog schwere Strafen nach sich. Der König ließ Vazul blenden und ihm heißes Blei ins Ohr gießen, so daß er zum Herrschen untauglich wurde, dessen Söhne Levente, András und Béla aber verwies er des Landes. Der Thronfolger, Peter von Orseolo, mußte einen Eid ablegen, daß er Stephan gehorchen, Königin Gisela in Ehren halten, ihr Hab und Gut nicht anrühren und gegen jedermann verteidigen werde.

Der erste ungarische König verstarb am 15. August 1038. Seinem letzten Willen entsprechend bestattete man ihn in der Kathedrale zu Székesfehérvár. Im Jahre 1083, zur Herrschaftzeit von König Ladislaus, wurde er heiliggesprochen. Die Erinnerung an ihn und seine Reliquien haben die Jahrhundert überdauert.


Zurück zum Seitenanfang