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KÜNSTE

BILDENDE KUNST
MUSIK
TANZ



BILDENDE KUNST

Kunst der Landnahmezeit

Einer der Wesenszüge der ungarischen Kunst läßt sich auf die weitverzweigte Herkunft des Ungartums zurückführen. Man findet den Einfluß des Zusammenlebens mit den finnisch-ugrischen Völkern in der heute lebendigen Volkskunst und den Volksbräuchen ebenso wie in der die Denkmäler der Vergangenheit als Fragmente bewahrenden Mythologie oder in der Volkmusik. Doch aufgrund der zeitgenössischen Bestattungssitten und überlieferten archäologischen Funde sind unter den Denkmälern des Urungartums auch davon abweichende Züge zu beobachten: In ihrer Kultur bzw. ihrer gesellschaftlichen und militärischen Organisation weist die Bevölkerung, die in ihrer Sprache grundlegend Träger des finnisch-ugrischen Erbes war, zur Zeit der Landnahme und Staatsgründung im Karpatenbeckend zahlreiche Steppenmerkmale auf.

Die Palette der archäologischen Denkmäler des 10. Jahrhunderts ist selbstverständlich nicht vollständig. Die meisten organischen Stoffe verrotteten im Boden, so daß neben Keramik und Tierknochen fast ausschließlich Metallgegenstände erhalten blieben. Häufigste archäologische Funde sind die Tracht- und Gebrauchsgegenstände: Gewandverzierungen, Waffen, Schmuckgegenstände, Denkmäler von Speise- und Trankopfern (Gefäße, Tierknochen).

Kennzeichnend für die Bestattungsbräuche des Großtierhaltung betreibenden Ungartums ist, daß man zu Ehren des Verstorbenen eines seiner Pferde opferte. Das Fleisch des Lieblingstieres wurde anläßlich eines Totenschmauses verzehrt und anschließend dessen Fell, Schädel und Gebeine neben dem Toten im Grab deponiert. Auch dies gestattet einen Einblick in die Welt und Lebensweise der Nomaden, daß die reich beschirrten Pferde, als Schlachtroß der Männer und Teil der Aussteuer der Frauen, die vormalige gesellschaftliche Stellung, den Rang ihrer Besitzer widerspiegelten.

Ein Charakteristikum der ungarischen Kunst ist die Palmettenverzierung der verschiedenen die Tasche abdeckenden Metallbleche. Die Tasche hing auf der rechten Seite am Gürtel der Männer und enthielt meist Werkzeuge zum Feueranzünden (Feuerschläger, Feuerstein, Zunder). Die metallene Deckplatte wurde durch Auftreiben und Punzieren (Einschlagen) bearbeitet, ihr Hintergrund häufig mit Vergoldung verziert.

Hauptmotiv der Taschenplatten - ebenso wie an der Kleidung, dem Säbel, der Haubenspitze oder auch an den Gürtelbeschlägen - war die Palmenblüte (Palmette).

Wesentlich häufiger ist an den Trachtgegenständen der Frauen und sonstigen Funden die Darstellung von Tiergestalten zu finden, die hauptsächlich an den verschiedenen Zierscheiben, Armringen, ja sogar an Pferdegeschirrbeschlägen erscheint.

Im Gegensatz dazu sind neben dem allgemeinen Pflanzenmotiv nur an wenigen der an Männer gebundenen Funde Tiergestalten zu sehen (Hauptriemenzunge, Knebelstange, Zierscheibe, Fürstensäbel). Eines unserer bekanntesten Denkmäler ist die Szene mit Tiergestalten auf der Taschenplatte von Bezdéd: ein hundeköpfiger, pfauenschwänziger Greif (Pfauendrache) und ein geflügeltes, einhörniges Tier - Gestalten der iranischen Mythologie - flankieren ein Kreuz byzantinischer Prägeart, als Beweis des im damaligen religiösen Leben vorherrschenden Synkretismus.

Am häufigsten tauchen an den erhalten gebliebenen Funden Turul (ein adler- oder falkenähnlicher Raubvogel) und Hirsch auf. Auch sie dürften - ähnlich wie die Palmette - iranischen Ursprungs sein. Die Reliefierung der an den metallenen Taschenplatten erscheinenden Motive ähnelt der der Lederarbeiten. Das Wahrnehmbarmachen des Licht-Schatten-Effektes kann vermutlich auf Textilvorläufer zurückgeführt werden.

Zur reichen Tracht der landnahmezeitlichen Ungarin gehörten die silber-vergoldeten Zierscheiben, Beschläge mit Anhängern, rhombischen Hemdkragenverzierungen und Kaftanbeschläge sowie Ohrgehänge. Diese Bestandteile der Tracht entstanden nicht ausschließlich zu Dekorationszwecken. Die darauf abgebildeten Tiere dürften der Trägerin Schutz geboten haben, der Lebensbaum hingegen stellte den Lebensraum der hilfreichen Geister dar.

Die im Laufe der Streifzüge erbeuteten Gold- und Silbermünzen, Schätze und Schmuckgegenstände wurden bald eingeschmolzen, und anschließend fertigten die Gold- und Silberschmiede daraus, ihrer eigenen Symbolik bzw. dem Geschmack der Auftraggeber entsprechend, die verschiedensten Dinge. Zu dieser Vorliebe für Prunk war eine große Menge an Edelmetallen erforderlich; die Rang und Würde anzeigenden Gürtelbeschläge der Männer z. B. müssen durchschnittlich ca. 200 g gewogen haben, aber auch für das Geschirr eines Fraupferdes dürften etwa 1,5 kg Silber notwendig gewesen sein.

Kunst zur Zeit des hl. Stephan

Mit der Staatsgründung und schrittweisen wirtschaftlichen Umgestaltung traten langsame, aber tiefgreifende Veränderungen ein. In der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts war das Ungartum bestrebt, indem es die alten heidnischen Sitten und Traditionen aufgab, sich in die Gemeinschaft der westeuropäischen Feudalstaaten einzufügen. Das charakteristische Hauptmotiv der Volkskunst, die Palmettenverzierung, fand auch in der Steinbearbeitung Eingang. Einer der frühesten Beweise dafür ist das Erscheinen der Flechtbanddekoration am Gebäudeschmuck der dreischiffigen Basilika in Zalavár. Gleichzeitig aber kann in diesem Zeitalter auch die Verwendung der antiken Akanthusblätter beobachtet werden.

Vorgänger des von König Stephan 1019 gegründeten Klosters Zalavár war eine im 9. Jahrhundert erbaute christliche Kirche. Und auch die Stadt Pécs (Quinque basilicae, Fünfkirchen) benannte man im Mittelalter nach ihrer frühchristlichen Kathedrale (Quinque martyrorum basilicae). Kennzeichnend für unsere frühesten Bauten sind die Zentralkirche byzantinischen Typs sowie die kleinen Rotunden der Gotteshäuser westlichen Typs. Unter den Händen der Abteien wurden die königlichen Kapellen, großen Rundkirchen bzw. einschiffigen Kirchen zu Klosterkirchen.

Bald erhoben sich auf dem Sankt Martinsberg (heute Pannonhalma) und in Bakonybél große Kathedralen und Abteikirchen mit weitreichendem Einfluß. Ein monumentales Werk der weltlichen Architektur war der Palast des Großfürsten Géza auf dem Burgberg zu Esztergom (Gran). König Stephan setzte die Bauvorhaben seines Vaters fort und machte damit Esztergom zum wichtigsten Zentrum der Kirche und des Staates.

Später wurde Székesfehérvár (Stuhlweißenburg) Königssitz, wo man um 1018 mit dem Bau einer auch in ihren Ausmaßen stattlichen Basilika begann. Das Hauptschiff der Kirche war 60 m lang, sie verfügte über eine aus Doppelfpeilern bestehende Säulenreihe. König Stephan hatte die St. Marienkirche als Kirche der königlichen Familie vorgesehen, doch schließlich wurde sie zum sakralen Zentrum mit zahlreichen Privilegien. Hier stand der königliche Thron, hier bewahrte man die Kronjuwelen auf. Seinem Wunsch entsprechend bettete man Stephan im Jahre 1038 hier zur letzten Ruhe; und zwar in einem Steinsarg, der aus einem römischen Sarkophag umgestaltet wurde und in dessen Darstellungen sich der byzantinische Einfluß widerspiegelte.

Von entscheidender Bedeutung war zur damaligen Zeit das Verhältnis zwischen Donator und gegründeter Institution. König Stephan der Heilige legte gesetzlich fest, daß jeweils zehn Dörfer eine Kirche zu bauen hätten, für deren Ausstattung der König Sorge tragen werde, während der Bischof einen Priester und Bücher beisteuere. Auf diese Weise fanden in Ungarn das Christentum und die Kunst westlicher Prägung engültig Verbreitung.

Das bedeutendste unter den Kunstdenkmälern dieses Zeitalters ist der 1031 als Meßgewand gefertigte Krönungsumhang. Er stellt die einzige unversehrt erhaltene Reliquie dar, die mit Gewißheit an das erste Königspaar - den hl. Stephan und die sl. Gisela - gebunden werden kann.

Ein herausragendes Denkmal der zeitgenössischen Goldschmiedekunst steht ebenfalls im Zusammenhang mit der Gemahlin König Stephans. Die Goldbleche des sog. Gisela-Kreuzes wurden mit Zellwerkemaillierung, echten Perlen und Edelsteineinlagen verziert. Hauptgestalt ist der aus Gold gefertigte Leib Christi, ihm zu Füßen knieen Königin Gisela und ihre Mutter, Isabella von Burgund. Die ungarische Königin ließ das Kreuz für das im Regensburger Niedermünster befindliche Grabmal ihrer 1006 verstorbenen Mutter anfertigen.

Zu den Kleinfunden des Christentums der damaligen Zeit gehören die verschiedenen Bronzekreuze. Sie dienten wohl als Reliquienbehälter und Brustkreuze und sind in Ungarn die ersten eindeutig christlichen Denkmäler des 10. Jahrhunderts. In größerer Zahl verbreiteten sich die aus dem Heiligen Land stammenden hohlen Reliquienkapseln bei uns nach 1018, denn zu dieser Zeit öffnete König Stephan die durch Ungarn führende Pilgerroute nach Jerusalem. An der Vorderseite der reliefierten Brustkreuze ist im allgemeinen Christus zu sehen, auf der Rückseite werden Maria oder auf den Balken des Kreuzes die mit erhobenen Händen betende Gestalt des Donators dargestellt.

Während bisher ausschließlich von Gegenständen die Rede war, die man auch historischen Persönlichkeiten attributieren kann, soll zum Abschluß nun noch ein solches kunsthistorisches Denkmal Erwähnung finden, das sich nur dank der Legenden an eine der herausragenden Gestalten unserer frühen Geschichte binden läßt. Im Zusammenhang mit der Augsburger Niederlage des Jahres 955 erwähnen sowohl Anonymus als auch Simon Kézai in ihren Chroniken das Horn des Lehel. Dieses Horn dürfte das wichtigste Erkennungsmerkmal des Heerführers Lehel - ohne Zweifel sein Würdeabzeichen - gewesen sein. In Ungarn bezog man die Legende schließlich auf eine byzantinische Elfenbeinschnitzerei, die heute im Museum von Jászberény aufbewahrt wird. (Diese Arbeit ist übrigens kein Einzelstück, denn unter den frühmittelalterlichen Denkmälern sind mindestens vierzig solcher Hörner aus Elfenbein bekannt.)

Das aus Elfenbein geschnitzte Horn des Lehel entstand im Laufe des 9.-10. Jahrhunderts. Es soll wahrscheinlich die Eröffnung der von den byzantinischen Kaisern häufig veranstalteten Circusspiele darstellen. Bei dem in der Mitte befindlichen, von einem magischen Symbol eingefaßten offenen Handteller handelt es sich vermutlich um die Hand des Kaisers, der die Erlaubnis zum Beginn der Spiele erteilt.

Der rituelle Trunk aus den verschiedenen Trinkhörnern ist im übrigen eine alte Steppentradition. Diese Hörner dienten nicht nur zum Hervorrufen von Tönen, sondern auch als Insignien der Würde. Den Fürsten der Völkerwanderungszeit stand ein Horn aus reinem Gold zu, den Rang der Hauptleute bezeichneten gold- bzw. silberbeschlagene Hörner. Und so hat der Miniaturmaler in der Bilderchronik die Ankunft der Ungarn festgehalten: Fürst Árpád, als Hauptfigur der zentralen Szene, hält in seiner Hand ein Horn mit vergoldeten Beschlägen und kostet gerade vom Wasser der Donau, womit er symbolisch den Boden der neuen Heimat in Besitz nimmt...

MUSIK

Schriftliche Spuren von der frühen ungarischen Musik sind nicht erhalten geblieben. Um die musikalischen Traditionen des landnehmenden Ungartums kennenzulernen, zogen Forscher in erster Linie Vergleiche zwischen der im 20. Jahrhundert gesammelten ungarischen Volksmusik und den Musikdenkmälern der verwandten Völker.

Dem Verfasser der russischen Urchronik, Nestor, zufolge eroberten die Lieder der Ungarn 885 sogar Kiew. Und Ekkehard erzählte in seiner um 1108 - also mehr als 150 Jahre nach dem ungarischen Feldzug des Jahres 926 - entstandenen Chronik von folgendem Vorfall: In dem verlassenen Kloster von Sankt Gallen trafen die Ungarn einen einfältigen Mönch namens Heribald an. Seine Einfalt erkennend, ließen sie ihn großmütig am Leben und luden ihn sogar zum Gelage ein. Nachdem von der im Keller vorgefundenen ansehnlichen Menge Weins nichts mehr übrig war, begannen sie gutgelaunt "in schrecklichen Tönen ihre Götter anzurufen". Ein ihrer Sprache mächtiger Dolmetscher und Heribald huben daraufhin mit heiserer Stimme an, die Antiphonie des Heiligen Kreuzes (Sanctifica nos - Segne uns) zu singen, denn anderntags - am 3. Mai - war der Feiertag des Heiligen Kreuzes. Die Ungarn lauschten verwundert dem für sie ungewohnten Gesang der Gefangenen, setzten dann aber ihr Gelage solange fort, bis die Hornsignale und Rufe der Späher sie auf das Nahen des Feindes aufmerksam machten.

Liutprand, Bischof von Cremona, erwähnt in seiner Beschreibung der Merseburger Schlacht des Jahres 933, daß sich die heidnischen Ungarn mit dem Schlachtruf "hui, hui" den Deutschen entgegenwarfen, die ihrerseits unter Absingen des Gebetes "Kyrie eleison" (Herr, erbarme dich) angriffen. Anonymus berichtet in seiner Gesta ebenfalls über die Vergnügungen der Vorfahren, und im Zusammenhang mit den Kämpfen um Kiew ist bei ihm an früherer Stelle auch von den Schlachthörner die Rede.

Ein wenig Licht auf die rituell gefärbte Musik des Ungartums werfen die Beschreibungen der nach dem Tode König Stephans ausgebrochenen Heidenauf-stände: 1046 versammelte János, der Sohn des Vata, viele Schamane und Seherpriester um sich, die ihrem Herrn mit Ritualgesängen huldigten; 1060 aber, als die Menge von dem hinter den Fehérvárer Mauern eingeschlossenen König Béla I. die Wiedereinführung der heidnischen Religion forderte, griffen ihre Führer das Christentum mit schmähenden Carmen (magischen Gesängen) an.

Laut Meinung der Forscher kann von mehreren Stilepochen ausgegangen werden, die zur Herausbildung der ungarischen Volksmusik beitrugen. Die erste größere Epoche läßt sich noch in den Zeitraum des ugrischen Zusammenlebens setzen, die zweite dürfte sich im Verlaufe des jahrhundertelangen Zusammenlebens mit den verschiedenen Türkvölkern entwickelt haben.

Eine archaische Form vertritt die älteste, vermutlich dem ugrischen Zeitalter entstammende Schicht der ungarischen Volksmusik, die Gruppe der Klagelieder; sie zeigt Verwandtschaft zu einer Gattung epischer Gesänge der Ostjaken. Bei dieser Art von Gesängen waren die rituellen und gedenkenden bzw. ins Gedächtnis rufenden, die lobpreisenden und den verstorbenen Helden beklagenden Elemente noch miteinander verflochten, die sich später dann verzweigten. Ihr Erinnerungsteil fand in den die Heldentaten der Ahnen besingenden Gattungen Fortsetzung, die lobpreisenden Töne in hymnischen Werken, ihre geisterbeschwörende Rolle aber lebte in den Klagegesängen weiter.

Typisch für sie ist das solistische Rezitativ, das heißt eine zur Hälfte gesprochene, zur Hälfte gesungene Vortragsweise. Bekannteste Abkömmlinge des Klagestils sind Balladen wie die vom großen Bergdieb und andere.

Während sich die Klagegesänge an den ugrischen Einfluß binden lassen, kann das Auftauchen der quintwechselnden pentatonischen Weisen in der ungarischen Musiktradition auf das viele Jahrhunderte währende Zusammenleben mit den türkischsprachigen Völkern zurückgeführt werden. In diesen Liedern spielten die nach heutigem Empfinden musikalische Schönheit sowie der Ausdruck von Gefühlen bereits eine größere Rolle. Bekanntestes Beispiel dafür ist das im Komitat Somogy überlieferte Volkslied vom Pfauen, der sich niederließ.

Vielleicht auf die Zeit der Landnahme und Staatsgründung gehen auch die an die Natur gebundenen Festtagszyklen zurück, deren musikalischer Stoff im Kreise des Volkes bis heute erhalten blieb. Die Gesänge der Spielleute sind Denkmäler des Festes der Wintersonnenwende; ihr Refrain allerdings entspricht musikalisch den von Byzanz ausgegangenen rituellen Refrainformeln. An den Gesängen, die an die Nacht der Sommersonnenwende erinnern, sowie den anderen musikalischen Elementen der mit dem Frühjahr verbundenen Volksbräuche erkennt man, wie die Einflüsse seitens der europäischen Agrarkulturen, Byzanz und der slawischen Völker in die ungarische Musik Eingang fanden.

Barden waren ursprünglich Spielleute, die ihre heidenzeitlichen Heldenlieder an Fürstenhöfen vortrugen. Die heutigen Interpreten der Volksmusik begleiten ihren Gesang mit lärmenden Instrumenten, unter Verwendung von Flöte, Topfinstrument, Kettenstab und Pfeife.

In einem Teil der Kinderlieder blieben musikalische Elemente der Naturmagie erhalten. Die Wiegen- und Schlaflieder passen sich dem Rythmus des Wiegens an; sie haben einfache Melodien, mitunter fast gar keine, und verwenden häufig Koseformen. Ebenfalls auf einen sehr weit zurückliegenden Ursprung deuten die stark rhythmischen Ab- oder Auszählreime und Sprüche hin.

Die Übernahme des Christentums führte in der ungarischen Musikkultur eine entscheidende Wende herbei: zusammen mit der neuen Religion hielt das um die Jahrtausendwende bereits zum Allgemeingut des europäischen Christentums gehörende kulturelle Erbe und Melodienrepertoire auch im Karpatenbecken Einzug. Ebenso wichtig war der Ausbau jenes Netzes von Institutionen, das es ermöglichte, diese geistigen Güter zu erhalten, zu pflegen und weiterzugeben. Die Schulen der Klöster, Pfarren und Stifte wurden auch in Ungarn zu Verbreitern des Schrifttums, der Wissenschaft und Musik, und damit bis zum Ende des Mittelalters zu den fast alleinigen Trägern der Kultur des westlichen Christentums.

Die Schulbildung ruhte auf zwei Grundpfeilern: der Grammatik und der Musik. In der mittelalterlichen Schule begleiteten die Kinder die Kirchenmesse oft zwei bis drei Stunden lang mit ihrem Gesang. Sowohl das gesangliche Material als auch der einheitliche liturgische Rahmen verbanden Ungarn mit der europäischen Christengemeinschaft, langsam aber begann sich das Antlitz des vom westlichen abweichenden ungarischen Gregorianums abzuzeichnen.

In bezug auf das gregorianische Repertoire übernahm man in Ungarn die mitteleuropäische, sog. pentatonisierende Variante. Angaben belegen, daß um 1028 ein Regensburger Mönch namens Arnoldus nach Esztergom (Gran) kam, der gemeinsam mit Bischof Anastas aufgrund alter Schriften eine neue Gesangsreihe zu Ehren des Regensburger hl. Emmeram zusammenstellte. Am Gedenktag des Heiligen sang der Chor der Kathedrale bereits die neuen Gesänge. Hauptsächlich das Aufblühen des Kultes der lokalen Heiligen ermunterte die Musiker, ähnliche Werke zu schreiben.

In Ungarn erfuhr das Grundmaterial der gregorianischen Musik von Anfang an eine Bereicherung durch Elemente örtlicher Bedeutung. Der erste Zyklus eindeutig ungarischen Ursprungs - eine Antiphonien- und Responsoriensammlung - entstand anläßlich der Heiligsprechung König Stephans, vermutlich in Székesfehérvár. Sein bedeutendster Satz blieb im Érdy-Codex vom Ende des Mittelalters erhalten: "Gegrüßet seist Du, glücklicher König Stephan der Heilige". Später wurden auch zu Ehren anderer ungarischer Heiliger, z. B. Herzog Emmerichs und König Ladislaus, Psalme in Gedichtform verfaßt.

Wahrscheinlich noch zur Herrschaftszeit Stephans und gerade im Zusammenhang mit der Staats- und Kirchenorganisation kam es auch zur Neuordnung der liturgischen Musik. Das betraf einerseits das Repertoire, andererseits den Aufbau der Liturgie - hauptsächlich der Psalmen, und schließlich die Melodievarianten, das heißt was, in welcher Reihenfolge und nach welcher Melodie zu singen war. Gleichfalls ein Charakteristikum des heimischen Gregorianums ist die Geburt der die deutsche Neumaschrift und die französisch-italienische Orientation verschmelzenden ungarischen Notenschrift, deren erste lesbare Beispiele im Pray-Codex zu finden sind.

Am Fürstenhof dienten zur selben Zeit außerdem noch Pfeifer und Trommler, die sich gruppenweise in den umliegenden Dörfern niederließen. Zu ihnen gehörten auch die Spielleute. Neben der lateinischen (westlich christlichen) Musikalität lebten - vor allen Dingen - in den Volksbräuchen die Gesänge des heidnischen Zeitalters weiter.

TANZ

Was die frühe ungarische Tanzkultur anbelangt, läßt sich - mangels entsprechender Quellen - vorerst nur vermuten, wie die im Karpatenbecken lebenden Völker im Zeitraum vor der Landnahme und unmittelbar danach getanzt haben.

Anhand vergleichender Untersuchungen der wenigen historischen Quellen sowie der Tanzfolklore der heutigen europäischen Völker können drei große Tanzregionen unterschieden werden:

1. Die südosteuropäische Region, wo der Kettentanz bzw. Reigen dominieren und wo man in Gruppen, zur Hälfte gebunden tanzt.

2. Osteuropa, wo die individuellen, ungebundenen, improvisatorischen Solotänze vorherrschen.

3. Westeuropa, wo die völlig gebundenen Paartänze in Gruppen und Raumformationen (Quadrille und Kontratänze) das Rückgrat des Tanzens bilden.

Wie sich aufgrund der tanzhistorischen Denkmäler - vor allem der großen Zahl westeuropäischer Quellen - herausstellte, vertreten diese drei Regionen eigentlich drei Abschnitte der historischen Entwicklung der europäischen Tanzkultur. Die von den kulturellen Veränderungen in Europa lange Zeit abgeschnittenen Balkanvölker haben die mittelalterlichen Ketten- und Rundtänze bis in die Gegenwart überliefert. Die osteuropäischen Völker (darunter auch die Ungarn) gaben die am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit modern werdenden Paartänze der Renaissance weiter, und von den Völkern Westeuropas wurden die sich im 18. Jahrhundert verbreitenden Quadrillen und Kontratänze bewahrt.

Bei Untersuchungen innerhalb dieses weitergefaßten historischen, geographischen und gesellschaftlichen Rahmens gelang es, eine ältere und eine neuere historische Schicht der ungarischen Volkstanztradition abzusondern, die sich streng voneinander unterscheiden.

Die Tänze alten Stils zeigen auffällige Übereinstimmungen mit den Tänzen der im Karpatenbecken lebenden Nachbarvölker. Die an der Grenze zwischen der alten und neuen historischen Schicht stehenden ungarischen Rundtänze weisen hauptsächlich südosteuropäische und alte mittelalterlicher Bezüge auf. Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt die landnahmezeitlichen Quellen, scheint es, als hätte es schon damals Anzeichen der Zweigesichtigkeit in unserer Kultur gegeben. In der Reihe der Kampfspiele, Gesänge und Vergnügungen, die in den Beschreibungen des Sankt Gallener Abenteuers und der Gesta Hungarorum des Anonymus erwähnt werden, kommen die Tänze in ähnlich undifferenzierter Form vor wie die historischen und folkloristischen Parallelen aus dem Osten.

Von einer anderen Dimension der mittelalterlichen ungarischen Tanzkultur künden die Darstellungen der aus dem 10.-11. Jahrhundert überlieferten Kunstgegenstände, wie beispielsweise die Jokulatoren auf dem Horn des Lehel oder die auf der Krone des byzantinischen Kaisers Konstantinos Monomachos abgebildeten Mirjam-Tänze. Sie sind Zeugnisse dafür, wie mittels dynastischer Beziehungen aus den entlegeneren Teilen Europas Elemente der dortigen Kultur (unter anderem der Tanzkultur) nach Ungarn gelangten.


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