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GLAUBENSWELT

DIE VORSTELLUNGSWELT DER HEIDNISCHEN UNGARN
DIE ANFÄNGE DER BEKEHRUNG ZUM CHRISTENTUM



DIE VORSTELLUNGSWELT
DER HEIDNISCHEN UNGARN

Über die Glaubenswelt der Ungarn kann man in erster Linie aus der landnahmezeitlichen Kunst sowie den ethnographischen Angaben erfahren, zur Rekonstruktion tragen aber auch bestimmte historische Quellen, mit Aberglauben verbundene Geschichten und nicht zuletzt archäologische Beobachtungen bei.

Die Religion der landnehmenden Ungarn beruhte - abgesehen davon, daß sie im Laufe ihrer Geschichte auch mit monotheistischen Religionen (der christlichen, jüdischen, islamischen) bekannt wurden - grundlegend auf dem Schamanismus, einer außergewöhnlich komplexen Vorstellungswelt. Zentrale Gestalt war der Schamane (laut ungarischer Bezeichnung: táltos), dessen Aufgabenkreis sehr mannigfaltig gewesen sein dürfte. Viele der aus abergläubischen Vorstellungen der Gegenwart bekannten Erscheinungen, die mit ihm im Zusammenhang stehen (wie z. B. daß er mit Zähnen geboren wird, die Reise ins Jenseits, um sich mit Geisterwesen zu treffen, das Erklettern des Lebensbaumes oder die miteinander ringenden Schamanen) findet man auch bei den sibirischen Völkern. Die Relikte dieses Glaubens sind sehr fragmentarisch und beziehen sich überwiegend auf den Totenkult.

Bekannt ist aus dem archäologischen Nachlaß der Brauch des Pferdeopfers und der Reiterbestattung. Dies wird auch von den Schriftquellen erhärtet, die über das Schimmelopfer, das Trinken von Stutenmilch oder den Blutsvertrag berichten. (Der Blutsvertrag war zwischen fremden Völkern das größte Opfer, das Symbol der Lebenskraft, um miteinander verwandt zu werden.)

Die Vorstellungswelt gründete auf dem Glauben an ein Leben im Jenseits. Gräber wurden im Verhältnis zum Wohnplatz jenseits von Gewässern angelegt und im allgemeinen mit dem Fußende in Richtung der aufgehenden Sonne, also nach Osten, orientiert. Den Verstorbenen stattete man mit Gegenständen des täglichen Gebrauchs und ranganzeigenden Beigaben aus. Die auf diesen befindlichen Ziermotive hatten besondere Bedeutung: Tierdarstellungen sind Zeugnisse des Totemismus, welcher einen Bezug zu den Urahnen in Tiergestalt nahelegt. Der Totemismus dürfte ein wichtiges Kriterium des ungarischen Urglaubens gewesen sein, auf dessen Existenz vor allem unsere Ursprungsmythen hindeuten: die Sagen vom Turulvogel und vom Wunderhirsch. Pflanzenornamentik und stilisierter Lebensbaum hingegen künden vom Universum. Gemeinsame Züge lassen sich zwischen der ungarischen Vorstellungswelt und dem finnisch-ugrischen Weltbild entdecken. Ihre Grundlage bilden der Schamanismus und das Weltbild mit den drei Regionen, die der Lebensbaum verbindet:

Die obere Region ist die Welt der Götter, Planeten (Sonne, Mond), Sterne (im Mittelpunkt mit dem Morgenstern) und guten Seelen - das Himmelreich, das Reich der Herrlichkeit. Hauptgestalt ist der Demiurgos, der Weltschöpfer.

Die mittlere Region verkörpert die Welt der Menschen sowie der außerhalb des Kreises der Menschen lebenden übernatürlichen Wesen, Geister, Kobolde und Krankheitsdämone, den Lebensraum der den Aberglauben beherrschenden Wald- und Wassergeister. Dieser Region entwächst der Lebensbaum (Weltbaum). Seine Zweige tragen - als Weltachsen - das zeltartige, löchrige Firmament, daraus stammen die Sterne. Seine Laubkrone hat sieben (neun) Ebenen.

Das Wurzelwerk des Baumes reicht als Gegenpart der oberen Welt - spiegelbildartig - in die untere Region. Unterwelt, Hölle, Kälte und Dunkelheit, das Gebiet jenseits des Grabes sind immer der Lebensraum des Bösartigen, des Teufels und der bösen Geister. Ebenso wie die obere Welt gliedert auch sie sich in sieben (neun) Ebenen.

Einem neuzeitlichen Volksaberglauben zufolge, der auf den Urglauben reflektiert, vernimmt ein einfacher Mensch lediglich die Kunde vom Lebensbaum. Finden kann ihn nur derjenige, der mit einem überflüssigen Knochen geboren wurde und bis zu seinem siebten Lebensjahr nichts anderes als Milch zu sich genommen hat. Dieser Mensch aber ist der Zauberer, dem diese Aufgabe von Geburt an bestimmt war. Seine Einweihung kennzeichnen zwei bedeutsame Momente; einmal, daß er sich den Geistern vorstellt, d. h. das Erklettern des den Lebensbaum symbolisierenden Schamanenbaumes, zum anderen, daß er die Geister tränkt, also das Blut der geopferten Tiere trinkt. Mittels seiner Geisterkontakte berät er die Gemeinschaft, er deutet die Träume, er vermittelt zwischen Lebenden und Toten, er heilt, er kann durch Besprechen vom Zauber befreien oder verirrte Seelen suchen und zurückbringen. Schamane leiten die Opferung von Tieren, sie erfragen den Grund für den Zorn des zürnenden Ahnen und auf welche Weise er versöhnt werden kann, und bei den Fruchtbarkeitsrituellen spielen sie ebenfalls eine Rolle.

Aus dem Ahnenkult entwickelte sich auch der Glaube an das Gottkönigtum, wonach es sich bei den Göttern um die lange verstorbenen Ahnen des lebenden Fürsten handelt. Die Herausbildung dieses Kultes im Kreise des Ungartums dürfte zur Zeit des Fürsten Álmos begonnen haben, worauf vielleicht gerade die Erinnerung an seine Ermordung hindeutet. Damals entstand unter anderem die Sage vom Turulvogel (auch als "Sage der Emese" bekannt), die davon kündet, daß dem Geschlecht des Turul-Ahnen dereinst ruhmreiche Herrscher erwachsen werden.

Die Anfang des 9. Jahrhunderts im Etelköz (Zwischenstromland - am Unterlauf des Don) lebenden Ungarn kamen mit der alanisch-bulgarischen Kultur in Berührung, trieben Handel mit den Arabern, Persern und Byzantinern, fielen in die fränkischen Provinzen ein und machten sich die benachbarten slawischen Völker tributpflichtig. Dieses Gebiet war zu jener Zeit die Pufferzone der großen Weltreligionen: die Chasaren bekannten sich zur jüdischen Lehre, die Iraner hingen dem Islam und die Byzantiner dem christlichen Glauben an. Ungeachtet dessen waren die Ungarn am Ende des 9. Jahrhunderts - laut übereinstimmendem Zeugnis des byzantinischen Kaisers Leo des Weisen und der mohammedanischen Quellen - eindeutig noch Heiden.

Mit der Annahme des Christentums allerdings wurde die heidnische Vorstellungswelt mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt. Das alte Weltbild, der Glaube an die zusammenstehenden Helden löste sich auf und lebte in anderer Form - so im Aberglauben, in Sprüchen, Märchenmotiven oder rituellen Gesängen - weiter. Die mythologischen Vorstellungen des Volkes sind in seiner Folklore wiederzufinden. Ebenso wie die wirtschaftliche und gesellschaftliche Struktur erfuhr im 10. Jahrhundert auch die Religion des das Karpatenbecken in Besitz nehmenden Ungartums eine tiefgreifende Veränderung.

DIE ANFÄNGE DER BEKEHRUNG
ZUM CHRISTENTUM

Beträchtliche Ausmaße dürfte die Bekehrung zum Christentum angenommen haben, nachdem die Oberhäupter Bulcsú und Gyula Mitte des 10. Jahrhunderts in Konstantinopel getauft worden waren. Gyula brachte bei seiner Heimkehr den frommen Mönch Hierotheos mit, den der Patriarch von Byzanz zum Bischof geweiht hatte. Das organisierte Bekehrungswerk begann und erhielt neuen Antrieb, als Sarolt, die Tochter des Gyula, sich mit Fürst Géza vermählte. Géza - der Vater König Stephans des Heiligen - wies dem ungarischen Volk für lange Jahrhunderte die einzig mögliche Richtung, die ein Weiterbestehen garantierte. Er erkannte, daß das Ungartum den Weg der Friedenspolitik beschreiten, die Beutezüge gegen benachbarte Völker einstellen müsse, da es die stärkeren Großmächte ansonsten früher oder später vernichten würden.

Das Streben nach Frieden war für die Außenpolitik Géza's bis zu seinem Tode kennzeichnend, denn die drohende Haltung seitens Byzanz stellte stets eine konkrete Gefahr dar. Der Fürst öffnete in Richtung Westen, um die Lage der Stammesunion zu festigen. Im Frühjahr 972 schickte er Gesandte an den Hof des deutsch-römischen Kaisers Otto I., um zu erfahren, ob dieser die Bekehrung der heidnischen Ungarn zum Christentum unterstütze. Der Kaiser sagte zu, und zusammen mit den die Antwort überbringenden Gesandten traf der Sankt Gallener Mönch Bruno in Ungarn ein, den der Erzbischof von Mainz zuvor zum Missionarbischof der Ungarn geweiht hatte.

Im Herbst des Jahres 972 nahm Bruno das Bekehrungswerk in Angriff, auch Fürst Géza wurde von ihm getauft. Gemeinsam mit den Mönchen, die ihm der Passauer Bischof Pilgrim zur Seite stellte, gelang es ihm innerhalb kurzer Zeit, eine große Zahl Ungarn zu bekehren. Wie aus einem um 973-974 an den Papst gesandten Brief Brunos hervorgeht, waren bereits fünftausend Frauen und Männer vornehmer Herkunft Christen geworden. Auch vom Beginn des Kirchenbaus in Ungarn ist in diesem Brief die Rede.

Géza ließ in Esztergom (Gran), das er sich zum Sitz erwählt hatte, für die fürstliche Familie nicht nur eine Burg, sondern auch eine Kapelle errichten. Die Kirche wurde dem ersten Märtyrer, dem hl. Stephan geweiht (dessen Namen Gézas Sohn Vajk, der spätere König Stephan, in der Taufe erhielt). Bischof Bruno und sein Kreis verbreiteten in erster Linie den Kult des hl. Gallus, der Gründer des Klosters von Sankt Gallen war, sowie des in Pannonien, in der Umgebung von Savaria geborenen Bischofs von Tours, des hl. Martin. Zeugnisse dessen waren ungarische Ortsnamen wie Szentgál oder das Patrocinium der Benediktinerabtei auf dem Sankt Martinsberg (Pannonhalma).

Nach dem Tode von Fürst Géza (997) machte sein Vetter, Herzog Koppány, seinen Herrschaftsanspruch geltend. Aufgrund des traditionellen Erbschaftsprinzips (Leviratus) konnte er den Führungsrang des Arpadenstammes und die Großfürstenwürde für sich fordern. Dem heidnischen Brauch entsprechend wollte er auch die Witwe Géza's zur Frau nehmen. Koppány war nicht bereit hinzunehmen, daß man ihn mit Hilfe der in der christlichen Religion dominierenden Primogenitur (Prinzip der Erstgeburt) von der Fürstenmacht ausschließt. Deshalb griff er, noch bevor Herzog Stephan zum Großfürsten geweiht wurde, zu den Waffen und fand damit unter den Freien des Gemeinvolkes massenhaft Anhänger. Der Kampf zwischen Koppány und Stephan sollte über das weitere Schicksal des Ungartums entscheiden. Die Aufständischen vertraten die alte Ordnung; sie kämpften für die Autonomie der Stämme, die althergebrachten Freiheitsrechte und die heidnische Religion. Der Rebellenführer zog mit seinem Heer nach Veszprém. Von der Esztergomer Burg aus machten sich die treu zu Stephan stehenden Truppen auf den Weg, um den Aufstand niederzuschlagen. Der Sieg Stephans über Koppány vereitelte den Versuch, Ungarn von jenem Weg der Entwicklung abzubringen, den schon Fürst Géza beschritten hatte.

Weder Géza noch Stephan wäre es ohne die Hilfe der ausländischen Mönche, Priester und Ritter gelungen, den Heiden Einhalt zu gebieten. Wesentlich änderte sich die Situation der Bekehrungstätigkeit im Jahre 1000, als Papst Silvester II. Stephan eine Krone und seinen apostolischen Segen sandte. Mit dem Akt der Königskrönung in Esztergom (Gran) war Ungarn in die Gemeinschaft der christlichen Völker Europas eingetreten. König Stephan öffnete seine Tore allen Verkündern des Evangeliums. Die ersten hohen Würdenträger der ungarischen Kirche kamen aus dem Ausland, und auch Königin Gisela hat in bedeutendem Maße zur Verbreitung des Christentums beigetragen.

Der junge König ging an den Ausbau einer ständigen ungarischen Kirchenorganisation; das Territorium Transdanubiens teilte er in drei Bistümer mit den Sitzen Pécs (Fünfkirchen), Gyõr (Raab) und Veszprém auf, die er dem Erzbistum Esztergom (Gran) unterstellte. Im Zwischenstromland von Donau und Theiß wurden die Diözese Eger (Erlau) und im Interesse der Bekehrung der östlichen Gebiete noch vor 1015 die Diözese Kalocsa gegründet. Im westlichen Landesteil entstand eine Reihe von Klöstern: 996 auf dem St. Martinsberg (dem heutigen Pannonhalma), um 1015 in Pécsvárad, 1019 in Zalavár und Zobor, um 1020 in Bakonybél. Das letzte von Stephan gegründete Bistum war Csanád, an dessen Spitze ein Benediktiner, der aus Venedig stammende gelehrte Theologe Gellért , (Gerhard) stand.

Die kirchenorganisatorische Tätigkeit König Stephans zeugte von außerordentlicher Umsicht. Beweis dafür ist, daß er die beiden nach Ungarn gekommenen Benediktinermönche Zoerard-Andreas und Benedikt - die später den Märtyrertod erleiden - in die nordwestlichen Gebiete, in die Gegend von Neutra entsandte. Bischof Gellért (Gerhard) hingegen - der 1083 zusammen mit ihm heiliggesprochen wird - lenkte er in die südlichen Landesteile, wo das Christentum dank der byzantinischen Bekehrungspolitik bereits Fuß gefaßt hatte. Die pastorale und Missionstätigkeit der griechisch-orthodoxen Kirche lag vorwiegend in den Händen ungarischsprechender slawischer Mönche und weltlicher Priester.

Den Aufbau der ungarischen Kirchenorganisation konnte König Stephan der Heilige zwar schon zu seinen Lebzeiten beenden, doch die dem Christentum drohenden Gefahren waren damit noch keineswegs aus dem Weg geräumt. Das zeigten der gegen den alternden König verübte Anschlag und die diesem folgende Vergeltung - Herzog Vazul wurde ausgeschaltet, seine Söhne András, Béla und Levente (die in der Geschichte des Arpadenhauses später noch eine große Rolle spielen sollten) des Landes verwiesen -, aber auch die Verschwörungen gegen seinen als Thronfolger eingesetzten Neffen, den aus Venedig stammenden König Peter, sowie eine Reihe von Heidenaufständen.


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