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LEBENSWEISE

WIRTSCHAFTSLEBEN
HANDWERK
SIEDLUNG UND WOHNORT
ALLTAGSLEBEN



WIRTSCHAFTSLEBEN

Die Lebensweise, das Wirtschaftsleben des frühen Ungartums zu charakterisieren, ist eine schwierige Aufgabe, weil uns dazu nur fragmentarische Quellen zur Verfügung stehen. Kennzeichnend für die Komplexität der landnahmezeitlichen Wirtschaftsweise war, daß sie nicht ausschließlich auf nomadischer Tierhaltung beruhte. Wesentliche Bestandteile bildeten darüber hinaus die Jagd, der Fischfang und nicht zuletzt der Ackerbau.

Tierhaltung

Mit wertvollen Anhaltspunkten zur landnahmezeitlichen Lebensweise dient die Haustierhaltung. Laut Zeugnis der bei Ausgrabungen zum Vorschein gelangten Knochenfunde muß es sich um eine sehr vielschichtige, artenreiche Tierzucht gehandelt haben; die Reste von insgesamt zehn Haustierarten (Pferd, Rind, Schaf, Ziege, Schwein, Kamel, Hund, Huhn, Gans und Ente) wurden freigelegt. Esel und Katze gehörten wahrscheinlich ebenfalls zum Kreis der Haustiere. Neben den europäischen Arten findet man im Haustierbestand auch solche Arten, die sie mitgebracht hatten (Tarpan /Wildpferd/, Zackelschaf, Kamel, Büffel).

Einer etwas übertreibenden zeitgenössischen Quelle zufolge pflegten die Ungarn "auf ihren Pferden zu gehen, zu denken, herumzustehen und sich zu unterhalten". Die allen Fährnissen der freien Natur gewachsenen Pferde bedurften nicht der Unterbringung in Ställen, obwohl auch das Einlagern von Winterfutter bekannt war. Dem heidnischen Brauch gemäß verzehrten unsere Vorfahren anläßlich von Opferungen und im Zuge des Bestattungszeremoniells auch Pferdefleisch, über den Verzehr von rohem Fleisch allerdings liegen keine Angaben vor. Einer weitverbreiteten irrtümlichen Vorstellung nach aßen die Ungarn Fleisch, das sie vorher unter dem Sattel "weichgesessen" hatten. Ursprung dessen dürfte jene bei den mittelasiatischen Reitervölkern noch heute bestehende Sitte sein, rohes Fleisch unter den Sattel zu legen, um den vom harten Holzgerüst aufgeriebenen Rücken der Pferde zu heilen - dies ist also eine wertvolle Angabe, sofern sie sich auf die uralte Tierheilkunst bezieht.

Die Pferde der landnehmenden Ungarn waren Abkömmlinge des Tarpan. Der einheitliche orientalische Typ bildete das Rückgrat des Pferdebestandes, es gab darunter aber auch den westlichen Typ niedrigerer Statur und hochgewachsene iranische Pferde. Nicht ihr Aussehen hielt man für wichtig, sondern ihre guten physischen Eigenschaften. Pferde wurden grundsätzlich im Freien gehalten. Ein Gestüt mit 20-25 Pferden bestand aus 5-6 Stuten, einigen Hengsten und den Fohlen. Das Gestüt graste winters wie sommers auf abgelegeneren Weiden, die Pferde für den täglichen Gebrauch in der Nähe der Unterkünfte. Aus der Stutenmilch stellte man Kumyß her. Mit dem Übergang zur gestütartigen bzw. Haltung in Ställen veränderte sich die Pferdehaltung grundlegend. Im Ausland wuchs die Nachfrage nach ungarischen Pferden und man begann, sie massenweise aufzukaufen.

Auch die ungarischen Rinder waren ursprünglich ungezähmte Tiere, die Herden lebten draußen im Freien. Knochenfunde des 10.-11. Jahrhunderts legen die Vermutung nahe, daß die kurzhörnigen Rinder lediglich eine Risthöhe von etwa 1 m hatten. Auf einem im archäologischen Hinterlassenschaftsmaterial einzigartigen Silberbeschlag der Landnahmezeit wird ein solches Rind dargestellt. Funde von Hornviehknochen deuten darauf hin, daß diese Tiere nicht nur als Fleisch- und Milchspender, sondern auch als Zugtiere Verwendung fanden.

Die dritte charakteristische Tierart des Nomadentums ist das Schaf. Zusammen mit den Vorfahren der Ungarn tauchte der Typ mit waagerecht stehenden, in breiten Bögen gedrehten Hörnern auf, dessen weiblichen Tieren mitunter keine Hörner wuchsen. Das Schaf war ein universelles Nutztier: seine Wolle diente als Ausgangsmaterial für den Filz, sein Fell zur Herstellung von Kleidung. In der Speisefolge des Hirten stand das Fleisch des Schafes an zweiter Stelle hinter dem Rindfleisch. Auf die landnahmezeitliche Ziegenhaltung deuten relativ wenige arhäologische Funde - von den Schafsknochen unterscheidet sie in erster Linie ihr Schädel, hauptsächlich aber die Form der Hörner.

Dem Schwein kam in der damaligen Ernährung noch wesentlich geringere Bedeutung zu. Das kalbsgroße, rötliche Tier hatten die landnehmenden Ungarn ebenfalls aus dem Osten mitgebracht, als ein Beweis für ihre schon im Etelköz (Zwischenstromland) ansässige Lebensweise. Diese Art stammt in gerader Linie vom Wildschwein ab, auch heute wirft es gestreifte Ferkel.

Nicht nur auf Darstellungen der Bilderchronik aus dem 14. Jahrhundert sind die windhundartigen Jagdhunde des Ungartums festgehalten, auch archäologische Funde der Landnahmezeit liefern Beweise für ihre Existenz. Einen der Hunde beispielsweise bestattete man mit einer blauen Perle um den Hals, als Schutz vor dem bösen Blick. Ebenso handelt es sich beim ungarischen Hirtenhund sehr wahrscheinlich um eine zeitgenössische Art. Ihn zeichneten Beherztheit und Stärke aus, was ihn zur Großwildjagd geeignet machte. Solche Hunde lassen sich von der Mongolei bis zum Karpatenbecken überall in der Steppenzone finden. Zur Falkenjagd wurden Spürhunde sowie die klugen, folgsamen Setter und Windhunde eingesetzt.

Das Huhn der Landnehmenden muß kleiner Statur gewesen sein, mit einem rötlichbraunen Federkleid ähnlich dem des Rebhuhns. Sein Gewicht dürfte ein dreiviertel Kilogramm erreicht haben, seine Eier waren etwa halb so groß wie die heutigen Hühnereier. Aus der Ackergans domestizierte man die Hausgans und mit den Eiern der Stockente die Hausente.

Überall entlang des Südrandes der Routen, die das Ungartum auf seiner Wanderung ins Karpatenbecken beschritt, war das Kamel heimisch. Es dürfte ihnen also unbedingt bekannt gewesen sein, obwohl die Knochen dieses Tieres bislang noch an keinem mit Gewißheit landnahmezeitlichen Fundort zum Vorschein kamen. Seine Darstellung in der Bilderchronik kann die Frage des Zeitpunktes der Übernahme selbstverständlich nicht entscheiden. Nur soviel ist sicher, daß König Béla III. den von Kaiser Friedrich Barbarossa angeführten Kreuzfahrern im Jahre 1189 drei Kamele schenkte.

Jagd

Die Jagd nahm im Leben der Tierhaltung betreibenden Nomaden einen besonderen Platz ein. Sie bedeutete nicht nur Nahrungsbeschaffung, sondern war gleichzeitig Unterhaltung und diente außerdem als ständige militärische Übung. Ihre beliebteste Form war die Falkenjagd. Neben der Jagd mit Falken oder Pfeil und Bogen wurden Pelztiere mit Hilfe von Fallen, Messern, Schlingen und Gruben erlegt.

Fischfang

Der Winter war für den Nomaden die Zeit des Fischfangs. Im Winter zogen sich die Hirten mit ihren Tieren in die Täler, vor allem an die Ufer der größeren Flüsse zurück, und diese Zeit nutzten sie, um den winterlichen Speiseplan durch Fangen von Fischen zu ergänzen. Die älteste Methode ist das Fischen mit Fischfangsperren, aber auch die Reuse, das Netz, die Harpune und der Angelhaken waren den Vorfahren der Ungarn bekannt.

Ackerbau und Sammeln

Mit dem Ackerbau wurde das Ungartum bereits in der südrussischen Steppe bekannt. Die Samen streuten sie einfach auf die unbeackterte Erde und pflügten sie dann ein. Wichtigstes Saatgut waren Hirse, Weizen und Gerste. Das reife Getreide wurde mit der Sichel geerntet, zum Mahlen verwendte man Mahlsteine oder eine Handmühle. Auch über Sensen und beschlagene Spaten verfügten sie. Diese Ackerbauweise entsprach nicht der heutigen ortsgebundenen, Düngung erfordernden Bearbeitung, sondern von Zeit zu Zeit ließ man die ermüdeten Felder brach und bebaute neue. Dies war die Anfangsstufe der Dreifelderwirtschaft.

Daneben erstreckte sich die wirtschaftliche Tätigkeit des Urungartums auch auf das Sammeln wildwachsender Obstsorten, eßbarer Pilze und von Honig, den ihnen die Natur schenkte. Honig erbeuteten sie hauptsächlich bei ihren Streifzügen, aber auch die Bienenhaltung in Waldbäumen dürfte ihnen schon bekannt gewesen sein. Der Reichtum des ungarischen Wortschatzes in bezug auf den Weinanbau weist eindeutig daraufhin, daß unsere Vorfahren weder den Wein noch das Bier verachteten. Ihren Durst löschten sie mit vielerlei auf verschiedene Art zubereiteten Getränken, darunter dem aus Stutenmilch gegorenen Kumyß.

HANDWERK

Neben den anfangs durch Arbeitsteilung getrennten Beschäftigungen der Tierhaltung und Jagd, des Fischfangs und Ackerbaus entstanden - nicht zuletzt um deren Bedarf an Werkzeugen und Geräten zu decken - die verschiedenen handwerklichen Tätigkeiten. Aus der Zeit der ungarischen Landnahme und Staatsgründung wurden unter anderem auf die folgenden Gewerke hindeutende archäologische Funde freigelegt: Bogenfertigung, Schmiedehandwerk, Sattlerei, Gold- bzw. Silberschmiedehandwerk, Leder-, Knochen- und Holzbearbeitung, Töpferei.

Für den Bogenmacher lieferte das Fischen einen der wichtigsten Rohstoffe, den Leim, mit dessen Hilfe er eine solch furchteinflößende Waffe fertigte, die die ganze westliche Welt erzittern ließ. Der Bogen wurde schichtweise, abwechselnd aus Hart- und Weicholz sowie aus flexiblen Tiersehnen zusammengestellt, indem man die Schichten mit dem aus der Fischblase gekochten Leim zusammenklebte, zusammenpreßte bzw. aneinander band. Die Handhabung des mit aus Hirschgeweih geschnitzten Platten verstärkten Reflexbogens bedurfte außergewöhnlicher Geschicklichkeit, deshalb übte man sie schon von früher Kindheit an. An den federbesetzten Pfeilschäften wurden - je nach Verwendungszweck - Pfeilspitzen unterschiedlicher Form befestigt, die nicht der Bogenmacher, sondern der Schmied anfertigte.

Die Produktpalette des Schmiedemeisters war sehr vielseitig; neben Pfeilspitzen stellte er die verschiedensten Waffen (Säbel, Lanze, Streitaxt), Pferdegeschirre (Trense, Steigbügel, Gurtschnallen) sowie landwirtschaftliche Geräte (Pflug, Spaten, Sichel, Beil) her. Zu dem bei Ausgrabungen freigelegten archäologischen Nachlaß des Schmiedehandwerks gehören Grubenwerkstätten, eine zum Teil in den Boden eingelassene Werkstatt, aber auch eine über Tage stehende Werkstatt mit Pfostenkonstruktion. Unter den Funden kamen solche geschmiedeten Messer oder Sicheln mit gezahnter Schneide zum Vorschein, an denen kombinierte Eisen- und Stahlbeschichtung zu beobachten ist.

Schmiedewerkstätten und Eisengießereien arbeiteten im 11.-12. Jahrhundert getrennt voneinander. Zwar wird in den zeitgenössischen Quellen nicht davon gesprochen, doch archäologische Funde beweisen es eindeutig, daß sich die landnehmenden Ungarn auch auf die Verhüttung von Edelmetallen und Eisen verstanden.

Der Sattler fertigte die Sattelknöpfe aus hartem Lindenholz, die Sattelbretter aus weichem Pappel- oder Birkenholz. An beiden Seiten des Sattels wurden die dem Reiter Sicherheit bietenden Steigbügel befestigt, deren runde Trittflächen gleichzeitig darauf hinweisen, daß die Ungarn damals zum Reiten Stiefel mit weicher Sohle trugen.

Von der Gold- bzw. Silberschmiedekunst der Landnahmezeit wissen wir überwiegend durch die bei Ausgrabungen zum Vorschein gelangten Gegenstände. Der meistverwendete Grundstoff außer Bronze war das heilige Metall, das Silber. Es wurde gegossen oder aus Blech getrieben und zwecks Verzierung gepunzt. Den Hintergrund schmückte man mit reicher Vergoldung, um den pflanzlichen Musterschatz noch besser hervorzuheben. Die vielleicht bekanntesten landnahmezeitlichen Denkmäler dieses Handwerks sind die in mannigfaltiger Weise geformten, eine ranganzeigende Rolle erfüllenden Taschenplatten.

An den zur Frauentracht gehörenden Scheiben oder Armringen tauchten auch Verzierungen in Form von Tierdarstellungen auf. Vom Gemeinvolk verwendete typische Schmuckgegenstände waren Haarringe mit S-Ende, halbmondförmige Anhänger, Bandfingerringe und Armringe. Das häufig aus Gold gefertigte Geschmeide der Vornehmen unterschied sich streng von den Bronze- bzw. Silbergegenständen, die das Gemeinvolk trug.

Mit der Staatsgründung verschwand die an das alte Weltbild des Zeitalters der Landnahme anknüpfende Goldschmiedekunst. Vom Goldschmiedehandwerk des 11. Jahrhunderts künden zahlreiche Schriftquellen, Kirchenregister oder Ortsnamen. In den Legenden über König Stephan den Heiligen wird die Altaraustattung der Kathedrale zu Székesfehérvár erwähnt, doch nur wenige Sachdenkmäler blieben erhalten. Die für den Hof arbeitende Goldschmiedewerkstatt in Esztergom (Gran) war gleichzeitig als königliche Münzstätte tätig, aber auch individuelle Aufträge der hohen kirchlichen und weltlichen Herren dürften die hiesigen Goldschmiede ausgeführt haben.

Die Lederverarbeitung galt anfangs als typische Frauenarbeit. Im allgemeinen diente als Ausgangsmaterial das Fell von Schafen, seltener von Rindern. Unter den frühen Gerbeverfahren wandten die Landnehmenden das Alaun- und Fettgerben an. In ganz Europa wurde das mit Alaun behandelte, talggetränkte ungarische Leder bekannt, das man mit Vorliebe zur Herstellung von Pferdegeschirr (Sattel, Zügel) benutzte. (Die Franzosen bezeichneten das mit Alaun behandelte Leder im Mittelalter als Leder ungarischer Art.) Andere aus Leder gefertigte Gebrauchs- und Trachtgegenstände - wie z. B. Schläuche, Taschen, Gürtel - waren Produkte der Geschirrmacher oder - wie bestimmte Teile der Kleidung - der Kürschner.

Der Knochen ist einer der ältesten Grundstoffe für Gebrauchsartikel. Bearbeitet wurden die Knochen, das Geweih, die Zähne und Stoßzähne von Haustieren und auf der Jagd erlegten Tieren. Aus Knochen fertigte man Schnallen, Ahlen, Nadeln, Tiegel, Bogenversteifungen oder verschiedene Spiele an. Aus Zähnen entstanden Amulette, aus Geweihen schnitzten sie Kämme und Stabenden. Die Trinkhörner beispielsweise wurden aus den Hörnern der Rinder gefertigt.

Als Werkzeuge der Holzbearbeitung dienten den landnehmenden Ungarn Äxte und Beile. Zur Herstellung von Gegenständen des täglichen Gebrauchs und Waffen (Sättel, Jurten, Bögen, Pfeilen, Schwert- und Säbelscheiden) wurde Holzmaterial ausgezeichneter Qualität verwendet. Auch für den Bergbau und das Einschmelzen von Erzen war eine große Menge an Holz erforderlich.

Die Erzeugnisse des zeitgenössischen Töpferhandwerks bilden jene Gruppe des archäologischen Fundmaterials, die am häufigsten zum Vorschein kommt. Den vielfältigen Möglichkeiten ihrer Verwendung entsprechend vertreten die im Zuge der Speise- und Trankopfer in den Gräbern deponierten Beigaben bzw. in Siedlungen gefundenen Tongefäße mannigfaltige Formen. Im allgemeinen wurden sie auf einer handbetriebenen Töpferscheibe gefertigt und mit verschiedenen eingeritzten Linien verziert. Typische, mit der nomadisierenden Lebensweise verbundene Denkmäler sind die scheibengedrehten Tonkessel, die zum Kochen auf den im Freien befindlichen Feuerstellen dienten.

SIEDLUNG UND WOHNORT

Untrennbarer Bestandteil des Steppenlebens war das ständige Weiterziehen, der häufige Umzug in andere Gegenden, um den Tieren entsprechendes Weideland zu sichern. Der gewohnte Rhythmus wurde grundlegend vom Wechsel der Jahreszeiten bestimmt. Eines der typischen Kennzeichen für die nomadisierende Lebensweise ist die Verwendung des leicht transportierbaren, schnell auf- und abzubauenden, runden Zeltes, der Jurte.

Die Seitenwand der kuppelförmigen, überdachten Jurte besteht aus einem Holzgitter, das man mit mehreren Schichten Filz abdeckte. Unterwegs wurde dieses Zelt meist von Lasttieren transportiert, es gab aber auch eine Variante, wo die Jurte auf einem Wagen befestigt war. Ihre innere Einteilung hatte man, da sie aus einem einzigen Raum bestand, streng festgelegt. Mit Blick in Richtung Eingang gehörte die rechte Seite den Männern, die linke den Frauen; neben dem Eingang war der Platz für die alltäglichen Tätigkeiten. In der Mitte befand sich die Feuerstelle, deren Rauch frei durch die obere Öffnung der Jurte abzog. Diese Dachöffnung konnte mit einer Decke verschlossen werden, die man durch eine Schnur herabzog. Ein Teppich bedeckte auch den Eingang. An der mit Teppichen verhängten Wand standen Ledersäcke und Holztruhen, in denen sie ihre Reichtümer, die Kleidung und Lebensmittel verwahrten. Waffen und Gebrauchsgegenstände hingen an den Holzleisten der Gitterwand. Die Jurte wurde von den Ungarn auch lange nach der Landnahme noch als Sommerwohnung benutzt.

Das Siedlungsnetz des im Karpatenbecken eintreffenden Ungartums war nicht einheitlich, so daß sich die Gliederung der zeitgenössischen Gesellschaft auch anhand der Wohnorttypen verfolgen läßt. Der größte Teil der Einwohnerschaft lebte in den sogenannten Winter- und Sommerquartieren, aus den Winterquartieren aber wurden nach und nach Dörfer. Ein davon abweichendes Bild zeigten die Wohnsitze der Stammes- und Sippenoberhäupter, die gleichzeitig als Marktorte fungierten. An diesem Siedlungsnetz änderte auch die zur Jahrtausendwende verwirklichte Staats- und Kirchenorganisation nicht viel.

Neben den im allgemeinen mit Ortswechsel verbundenen Sommerquartieren entwickelten sich - als Folge der langsam immer mehr Bedeutung gewinnenden Bodenbearbeitung - aus den ständigen Winterquartieren dorfartige Siedlungen. In den Dörfern des 10. Jahrhunderts gehörten die zur Hälfte im Boden eingelassenen Grubenhäuser bald schon zum alltäglichen Bild, später tauchten dann auch die an der Oberfläche errichteten Wohn- und Nebengebäude auf. Diese Bauten entsprachen den damals in ganz Osteuropa verbreiteten Haustypen.

Die Veränderung der Siedlungs- und Wohnhaustypen läßt sich mit der wirtschaftlichen Umgestaltung erklären. Anfangs führten die landnehmenden Ungarn das Leben nomadisierender Hirten. Vom Frühjahr bis zum Herbst weideten sie ihre Herden, im Winter kehrten sie in ihre von Äckern umgebenen ständigen Winterquartiere zurück. Nach der Landnahme aber wurden sie seßhaft, und damit nahm die Herausbildung der kleineren Dörfer ihren Anfang. Bereits in den Gesetzen und Schenkungsbriefen König Stephans erscheint das als Wohnort des Gemeinvolkes festgelegte, über Gemarkungen verfügende Dorf (villa), dem der Dorfschulze (villicus) vorstand.

Mit Herausbildung des Systems der Komitate kam es zum Bau von Holz- oder Blockburgen, die zunächst als Zentren der Sippenoberhäupter, später dann als Gespanschaftszentren dienten. Die Burg selbst war ein durch Erdwerke bzw. Wälle geschütztes Wohngebiet unterschiedlicher Art und Größe. Charakteristisch für die Festen des 10.-11. Jahrhunderts ist, daß sie auf einem aus dem Hochwassergebiet der Flüsse aufragenden niedrigen Hügel, einer Halbinsel oder einem Gebirgsausläufer, also in jedem Fall an irgendeiner strategisch wichtigen Stelle standen.

Das im rechtlichen Sinne als mittelalterliche Stadt zu bezeichnende Gemeinwesen entwickelte sich in Ungarn erst an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert. Urbane Funktionen versehende und für die territoriale Arbeitsteilung maßgebliche Siedlungen allerdings gab es auch vorher schon. Als solche dürfen in erster Linie jene städtischen Siedlungen gelten, die hinsichtlich ihrer Verbraucheransprüche über dem Durchschnitt lagen oder sich an der Abwicklung des beginnenden Warenaustauschs beteiligten, wie beispielsweise die Herrscher- bzw. Kirchenzentren. Hier, im Schutze der befestigten Herrensitze, dürften auch Märkte entstanden sein. In der Nähe dieser Marktflecken befanden sich die Dörfer der Handwerker, die im Dienste der Obrigkeit standen, sowie der mit Handel befaßten Ethnika. Zur Zeit der Staatsgründung war die Burg von Esztergom (Gran) der häufigste Aufenthaltsort des Königs und gleichzeitig Residenz des ersten ungarischen Erzbistums. Székesfehérvár hingegen entwickelte sich zum sakralen Zentrum. Da man hier den Staatsgründer, König Stephan, bestattet hatte, wurde es später zum wichtigsten Krönungs- und Bestattungsort der ungarischen Könige, und hier verwahrte man auch die Krönungsinsignien.

Bereits in seiner Heimat im Etelköz lebte das Ungartum am Rande international bedeutender Handelsrouten, beteiligte sich am Handel mit Wachs, Pelzen und Sklaven. Diese Handelsbeziehungen zu Byzanz und den arabischen Völkern brachen auch im Karpatenbecken nicht ab, Schriftquellen berichten über die Ausfuhr von Sklaven und Pferden bzw. die Einfuhr von Zinn und Pelzen. Obwohl zum überwiegenden Teil Naturalwirtschaft betrieben wurde, fanden schon im Zeitalter der Staatsgründung zur Abwicklung des notwendigen Warenaustauschs Landesmärkte (Messen) statt.

Eine wesentliche Rolle im mittelalterlichen Verkehr spielten die noch von den Römern gebauten festen pannonischen Straßen sowie die schiffbaren Flüsse. Bereits im 11. Jahrhundert erwähnen Quellen den Schiffsverkehr auf der Donau, ja selbst Schiffsanlegestellen sind bekannt. Wichtigstes Tier des Straßenverkehrs war auch weiterhin das Pferd. Im 10.-12. Jahrhundert lieferten die Händler ihre Waren auf kürzeren Strecken zu Pferde oder sogar zu Fuß. Als Haupttransportmittel im Fernlastverkehr diente schon seit langem der zwei- oder vierrädrige Wagen. Zur Personenbeförderung wurde er nur selten in Anspruch genommen, da ein Reiter täglich rund 100 km zurücklegen konnte, während man mit dem Wagen höchstens 20-30 km schaffte.

Die von König Stephan getroffenen Maßnahmen erstreckten sich auch auf das Maßsystem. Der Fuß, die Grundeinheit des Längenmaßes, ist bayerisch-karolingischer Herkunft; er betrug 16 Finger bzw. 1/10 Klafter. Grundeinheit der Landvermessung war das königliche Klafter, dessen aus einem Seil gefertigter Etalon in der Schatzkammer zu Székesfehérvár aufbewahrt wurde. Der europaweit verbreiteten römischen Tradition sowie der in Ungarn praktizierten Ackerbestellung entsprechend legte man das Maß des königlichen Morgens fest, was 12x72 königliche Klafter bedeutete. Bei der Herausbildung der Gewichtseinheiten fiel den Münzen eine wichtige Rolle zu. Die Raummaße fanden in den Begriffen der Getreide-, Heu- und Hanfarbeiten Ausdruck, wie beispielsweise Faust, Garbe und Wagen. Neben den königlichen verbreiteten sich überall im Land auch lokale Maße, abgesehen davon, daß die Messungen zu jener Zeit natürlich keineswegs exakt waren.

ALLTAGSLEBEN

Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern

Im alltäglichen Leben der Vorfahren teilten sich Frauen und Männer die Arbeit. Sache der Frauen war das Kochen und Backen. Schon vor der Landnahme verwendeten sie Zwiebel, Erbse, Meerrettich und Salate als pflanzliche Nahrung. Zum Kochen dienten große Tonkessel, die Speichergefäße dürften aus verschiedenen Hölzern und auch aus Leder gefertigt worden sein. Im Ofen bucken sie aus dem auf eine glühende Steinplatte gegossenen Teig das Fladenbrot. Aufgabe der Frauen war die Fertigung der Kleider, Teppiche und des Filzes, die Abwicklung des Umzuges, das Auf- und Abbauen der Filzzelte. Doch nicht nur die Hausarbeit war Sache der Frauen, auch an der Bestellung des Gartens mußten sie sich beteiligen. Die im Zusammenhang mit der Großtierhaltung anfallenden Aufgaben gehörten selbstverständlich zu den Pflichten der Männer. So war zum Beispiel auch das Melken Männerarbeit, den Kumyß aber bereiteten bei den Steppenvölkern immer die Frauen zu.

Gesponnen wurde mit Spindeln; zum Weben diente erst ein waagerechtes Webgerät, nach der Landnahme benutzte man dann schon fußbetriebene Webstühle. Die Frauen und Mädchen stellten auch den Filz (aus Schafwolle gefertigten Stoff) her, der dann vielseitige Verwendung fand: Kleidung (Mäntel, Stiefel, Hauben), Taschen, Decken, Schabraken, vor allen Dingen aber die Abdeckung der Zelte wurden daraus gemacht.

Bekleidung und Tracht

Beide Geschlechter trugen vermutlich ähnliche Kleidungsstücke: ein Hemd aus Hanf- oder Flachsleinen, ein kaftan- oder mantelartiges Obergewand, weite Hosen und Stiefel mit leicht nach oben gebogener Spitze. Ihrem Rang, Alter und Stand entsprechend schmückten sie ihre Kleider auch mit schillernden Beschlägen. Die Lage der archäologischen Funde in den Gräbern bietet Möglichkeiten, einen Teil der Kleidung zu restaurieren.

Ein typisches Zeichen für den Rang und die Würde eines freien Mannes war bei den Reiternomaden der beschlagverzierte Gürtel. Mit dem Anlegen eines Gürtels wurde der Knabe zum Manne gekürt, die Anzahl und Qualität der Beschläge kündeten von der gesellschaftlichen Stellung ihres Trägers. Am Gürtel hingen die Waffen und die Tasche mit den Dingen des täglichen Gebrauchs. Die Mütze der Männer war eine spitze Leder- oder Filzhaube, deren herunterklappbarer Rand die Ohren schütze.

Wesentlich prächtiger dürfte die Tracht der Frauen gewesen sein. Die Mädchen trugen einen Kopfputz, wohlhabendere Frauen eine mit Scheiben und Anhängern verzierte oder pelzbesetzte Haube. Ihren Schmuck bildeten verschiedene Ohrgehänge und Haarringe, Zopfschmuck, auf Halsketten gefädelte Perlen, halbmondförmige Anhänger, Armringe und Fingerringe. Auf die Stehkragen der Frauen- und Kinderhemden nähte man rhombische und zweiteilige Anhängerbeschläge, das Hemd wurde mit Ösenknöpfen geschlossen.

Über ihrem perlenbesetzten oder mit kleinen Knöpfen verzierten Hemd trugen die Frauen Brokat- oder Seidenkaftane, deren Saum quadratische und halbmondförmige Beschläge mit Anhänger oder gepreßte Rosetten zierten.

In ihre Zöpfe flochten sie geschliffene Muscheln und Perlen und hängten ans Ende eine dekorative Scheibe. Armringe dienten dazu, die Kleiderärmel zusammenzuhalten. Charakteristische Schmuckgegenstände des Gemeinvolkes im Zeitalter der Landnahme und Staatsgründung sind die aus Silber oder Bronze gefertigten Haarringe mit S-Ende. Die in Tierköpfen endenden Armringe - auch sie wurden zu jener Zeit mit Vorliebe benutzt - dürften außerdem eine behütende-schützende Funktion erfüllt haben.

Zur Tracht der oberen Gesellschaftsschicht gehörte das geschlitzte Pelzobergewand (Schafspelz). Als Umhang diente vermutlich eine Filzdecke, mit der sie bei schlechtem Wetter ihre Schultern bedeckten. Weitere typische Kleidungsstücke waren die gemusterte Tunika, die Handschuhe, die kurze Pelzjacke, die mit Nieten mit verzierten Köpfen beschlagenen, seitlich genähten Stiefel sowie das in der Mitte oder an der linken Schulter schließende Seidenhemd.

Wie die in den Gräbern freigelegten Eisen und Bronzeschnallen andeuten, wurden den Bestatteten mit Verbreitung des Christentums meist nur noch einfache Leder- oder Textilgürtel mitgegeben. Am Hals trugen sie hohle Reliquienkreuze oder gegossene Brustkreuze.

Die Haartracht gilt seit Urzeiten als Merkmal der Unterscheidung zwischen den Geschlechtern und Altersklassen. Auch als Hinweis auf den gesellschaftlichen Rang könnte sie gedient haben, und im Kreise der Frauen war sie wohl eher ein Zeichen für die Bewahrung der Traditionen.

Heilung

Dazu, wie die Menschen der ungarischen Landnahmezeit Krankeiten interpretiert und wie sie sie geheilt haben, liegen uns kaum Angaben vor. Einen geringen Anhaltspunkt bieten in diesem Zusammenhang die Kenntnis der zeitgenössischen Heilkräuter und Heilverfahren oder fragmentarische Überlieferungen der heidnischen Glaubenswelt, die sich darauf beziehen lassen. Sicher ist nur soviel, daß die Schädelöffnung (Trepanation) bei unseren Vorfahren breite Anwendung fand, was ernsthafte Kenntnisse auf dem Gebiet der Anatomie und Chirurgie voraussetzt.


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