ZEITALTER DER STAATSGRÜNDUNG
Großfürst Géza
In den 970er Jahren nahm Großfürst Géza - gezwungen durch die veränderte innen- und außenpolitische Situation - den Glauben der Sieger an, das Christentum, setzte das Bekehrungswerk im Lande in Gang und begann gleichzeitig mit dem Ausbau der Zentralmacht. Zu Kriegen im Ausland kam es während seiner 25jährigen Regierungszeit als Fürst kaum. Als Bekräftigung seiner auf Frieden ausgerichteten Politik dienten die zur damaligen Zeit übrigens selbstverständlichen dynastischen Ehen, die seine Kinder mit den Angehörigen ausländischer Herrscherfamilien schlossen.
Seine älteste Tochter wurde die Frau des polnischen Fürsten Boleslaw des Tapferen, die zweite Tochter vermählte er mit dem bulgarischen Thronfolger Gavril Radomir. Besonders wichtig war die Klärung des Verhältnisses zu den Deutschen; sein Sohn Vajk, der in der Taufe den Namen Stephan erhielt, heiratete Gisela, die Tochter des Bayernherzoges Heinrich des Zänkers, und wurde damit der Schwager des neuen Herzogs von Bayern, Heinrichs IV. Seine dritte Tochter gab Géza dem venezianischen Dogen Otto von Orseolo zur Frau. Friedliche Beziehungen kennzeichneten auch sein Verhältnis zu den Ländern im Osten, - so zu den Fürsten der Kiewer Rus und zu den Bulgaren, zu denen Mihály (Michael), der jüngere Bruder Géza's, durch seine Heirat mit einer bulgarischen Prinzessin den Weg geebnet hatte.
Der Übertritt zum Christentum warf die grundlegende Frage auf, ob Ungarn sich der Ost- oder der Westkirche anschließen soll. Ein Teil der ungarischen Vornehmen hatte sich schon früher (um 948) zum byzantinischen Christentum bekannt. Doch schließlich wurde die Entscheidung von der aktuellen außenpolitischen Lage bestimmt. Das letzte Kapitel der ungarischen Streifzüge zielte in Richtung Südosten, und infolge dessen kühlte sich das Verhältnis zu Byzanz ab. Eine Warnung dürfte dem Fürstentum Ungarn außerdem gewesen sein, daß der byzantinische Kaiser die politische und religiöse Selbständigkeit Bulgariens aufhob.
Als Byzanz und das deutsch-römische Kaiserreich direkte Nachbarn Ungarns wurden, sah Großfürst Géza in der Orientierung nach Westen die vielversprechendere Stütze. Otto I. hatte nämlich erkannt, daß, wenn er die Sache der Ungarn unterstützt, er seinen eigenen politischen Einfluß in diesem Raum verstärkt. So wählte der Kaiser mit dem Rat und unter Mitwirkung seiner unmittelbaren Anhänger die Mitglieder der ungarländischen Mission aus. Für das Amt des Missionarbischofs fiel seine Wahl auf den Sankt Gallener Prunwart (den späteren hl. Bruno). Im Herbst 972 wurde der Mönch Bruno also vom Mainzer Erzbischof zum Bischof der Ungarn geweiht, und er hat viele Heiden auf den Weg des wahren Glaubens geführt. Unter anderem taufte er auch Großfürst Géza und dessen Familie. Géza erhielt in der Taufe den Namen Stephan. Seine Gemahlin Sarolt hingegen war durch den Einfluß des griechischen Bischofs Hierotheos schon als Kind Christin geworden.
Angesichts der von Byzanz drohenden Gefahr war der ungarische Großfürst auf die politische, moralische und eventuell militärische Hilfe des deutschen Kaiserreiches angewiesen. Für die Ungarn bedeutete die Annahme des Christentums gleichzeitig ein kulturelles und politisches Ereignis. Zur Herrschaftszeit Géza's gab es keine Streifzüge mehr, damit verebbten aber auch die Quellen zur Beschaffung reicher Beute. All die Güter, die man sich bis dahin im Ausland beschafft hatte, mußten nun aus heimischen Quellen gesichert werden. Nur ein Teil der unter Waffen stehenden Gruppen konnte seine Unabhängigkeit bewahren. Diejenigen, deren militärische Dienste überflüssig wurden, verpflichtete man zu verschiedenen anderen Dienstleistungen. Im Falle bestimmter Siedlungen verbreitete sich das Eintreiben eines obligatorischen Geschenkes und des Zehnten in Form von Naturalien oder Produkten. So wuchs in der Umgebung der fürstlichen Herrenhöfe die Zahl der Dörfer, in denen das Hofgesinde lebte (Köche, Gold- und Silberschmiede, Hufschmiede). Ein Teil der abgabepflichtigen Produkte gelangte auf ausländische Märkte, der Vornehmenschicht aber stand die Möglichkeit offen, die früher durch Raub erbeuteten Luxusartikel von Händlern zu erwerben. Die Einkünfte aus den heimischen Zöllen (deren Haupteinnahmequelle die Gewinne der Salz- und Silbergruben bildeten) und verschiedenen Fährstellen standen dem Großfürsten zu. Die Verbreitung der neuen Religion, die sich nicht frei von Gewalt vollzog, bzw. das Drängen nach Schaffung einer neuen inneren Ordnung stießen bei einem Teil der Freien auf Widerstand, und auch von den Stammes- und Sippenoberhäuptern wurden diese Bestrebungen nicht unbedingt begrüßt.
Zur Realisierung seiner Pläne stützte sich Großfürst Géza vor allem auf die deutschen Ritter und die Kirchenmänner seiner unmittelbaren Umgebung. Seine Zentralisierungsbestrebungen konnte er nur mit einem starken militärischen Gefolge verwirklichen. Anstelle der heidnischen Stammes- und Sippenhäupter berief er deutsche Ritter in den Fürstenrat, die ihn bedingungslos unterstützten und die gelegentlich auch das Vermögen der rebellierenden Führer erhielten. Diese fremden Ritter bildeten den Kern der schwerbewaffneten Streitmacht. Die ungarischen Krieger waren in erster Linie mit der damals üblichen leichten Bewaffnung ausgerüstet. Zum Heer des Fürsten dürften außerdem militärische Hilfstruppen, unter anderem Petschenegenkrieger, gehört haben.
Géza verfolgte das Ziel, seinem Nachfolger ein Land zu hinterlassen, das unabhängig von allen äußeren Mächten ist. Gleichzeitig führte die Frage der Thronfolge am Fürstenhof zu Diskrepanzen: Nach uraltem Brauch durfte Koppány die Macht beanspruchen, der Herrscher aber erwählte seinen erstgeborenen Sohn zum Nachfolger. Der Konflikt innerhalb der fürstlichen Familie brach nach dem Tod Géza's im Jahre 997 aus.
Herrschaft König Stephans
Die Bemühungen des Großfürsten Géza, eine feste Staatsmacht zu etablieren und seinem Sohn die Thronfolge zu sichern, waren nur teilweise erfolgreich, mußten sich in den einen oder anderen Teil des Landes doch mehrere Mitglieder der Fürstenfamilie teilen. So erhob Herzog Koppány ebenfalls Anspruch auf die Herrschaft. Früher galt in der ungarischen Thronfolge das Prinzip, daß der älteste lebende Bruder die Macht übernimmt. Darüber hinaus konnte Koppány dem Brauch zufolge neben der Macht auch die Hand Sarolts, der Witwe des Großfürsten, beanspruchen. Der Wille Géza's, sein erstgeborener Sohn möge den Thron erben, bedeutete einen Bruch mit dem uralten Recht.
Koppány griff zu den Waffen, und in Transdanubien schlossen sich ihm viele an. Die Aufständischen vertraten Glauben und Ordnung nach althergebrachter Art, die seit Urzeiten gewährten Freiheitsrechte, die Selbständigkeit der Stämme, die heidnische Religion.
Koppány zog mit seinen Kriegern nach Veszprém, wo Sarolt ihren Sitz hatte. Auch Stephan bereitete sich auf den Angriff vor; noch vor der Schlacht statteten ihn seine Anhänger durch Angürten eines Schwertes mit der Großfürstenwürde aus. Anschließend brach er mit seiner Streitmacht, in der sowohl ungarische als auch ausländische Verbände kämpften, von der Burg Esztergom (Gran) nach Veszprém auf. Die deutschen Ritter (principes) Hont und Pázmány befehligten Stephans Leibgarde. An der Spitze des Heeres stand Vencellin, ein schwäbischer Gast (hospes), dem es im Laufe des Kampfes vor Veszprém gelang, Koppány zu töten. Nach dem Sieg wurden die ihm zu Hilfe geeilten Ritter von Stephan reich belohnt. Den Leichnam Koppánys ließ er vierteilen und zur Abschreckung an vier Burgtoren zur Schau stellen; die ins transdanubische Székesfehérvár (Stuhlweißenburg), Veszprém und Gyõr (Raab) sowie ins siebenbürgische (Gyula)Fehérvár (Karlsburg) gesandte Warnung aber galt dem ganzen Land. So wollte er all jene einschüchtern, die gedachten, sich der von ihm vertretenen neuen Ordnung zu widersetzen.
Die am Hofe weilenden Fremden trafen überwiegend zusammen mit Gisela ein und spielten nicht nur bei bewaffneten Auseinandersetzungen eine entscheidende Rolle. Mindestens ebenso wichtig war ihre Tätigkeit im kirchlichen und politischen Bereich, sie berieten den Herrscher bei seinen Regierungsgeschäften. Als es zur Bildung der Gespanschaften und Burgkomitate kam, konnte man im Verwaltungswesen das entwickelte westliche Modell übernehmen. Es mußten solche Zentren geschaffen werden, die zur Festigung der Macht des Königs beitrugen; dies aber waren die Burgen.
Die Versorgung der Burgen erfolgte durch die burgeigenen Güter und das dort ansässige Gesinde. Ein Großteil der Grundbesitzungen lag in der Nähe der Burg, aber auch entferntere Gebiete dürften dazu gehört haben. Das Leben der Burg lenkte der Burggespan: er sprach Recht, nahm die Steuern ein, führte die waffenfähigen Männer in den Kampf. Er stand über den Burgsassen, die die Stütze des neuen Machtgefüges darstellten. Aus ihren Reihen kamen die Beamten der Burgorganisation, sie bildeten das Gros der im Landesheer Dienenden. Das zur Burg gehörende Gemeinvolk hatte rechtlich zwar seine Freiheit bewahrt, doch war es auf ewig an den Dienst in der Burg gekettet. In erster Linie befaßten sie sich mit Ackerbau und Viehzucht, nur ein bestimmter Teil von ihnen ging zum Militär. Sie zahlten Steuern in Form von Geld und Naturalien. Die Einkünfte flossen in die Kassen des Herrschers und des Gespans (im Verhältnis 2/3 zu 1/3).
Der königliche Hof ging häufig auf Reisen. Bei solchen Gelegenheiten quartierte sich die zahlreiche Begleitung in den Burgen bzw. den umliegenden Dörfern ein, und das Burgvolk war verpflichtet, sie zu versorgen. Tat es das nicht, durfte stattdessen Quartiergeld (descensus) von ihm gefordert werden.
Der Gespan und seine Leute kassierten an den Grenzen des Komitats Straßenzölle und an den Übergangsstellen der Flüsse Brückenzölle. Am Fuße der Burg, außerhalb der Burgmauern, fand an einem bestimmten Tag der Woche ein Wochenmarkt (vásár) statt. Anfangs war dies der Sonntag (daher im Ungarischen die Bezeichnung "vasárnap"). Mit Verbreitung des Christentums aber wurde dieser Tag zum Feiertag - am Sonntag durfte nicht gearbeitet werden, die Dorfbewohner gingen zur Kirche -, und man verlegte den Wochenmarkt auf einen beliebigen anderen Wochentag.
Aufbauend auf den Burggespanschaften entstanden die Burgkomitate, die in erster Linie für Verwaltungs- und nicht für militärische Aufgaben zuständig waren. Das slawische Wort megye (Komitat) bedeutet Mark/Gemarkung. Die Gemarkungen der im Entstehen begriffenen Komitate wurden von den Burgen, Bistümern und den damals noch existierenden Stammesgebieten bestimmt. Im Gegensatz zu den Gespanschaften, bei denen es sich um zusammenhängende Besitztümer handelte, innerhalb deren Grenzen die Untertanen des Königs sowie der kirchlichen und weltlichen Großgrundbesitzer lebten. Die Zahl der Burgkomitate dürfte 35-45, also geringer als die der Burggespanschaften gewesen sein. An ihrer Spitze standen die Komitatsgespane, die vom König ernannt wurden.
Nach seinem Sieg über Koppány und der Umstellung des Verwaltungswesens hielt Fürst Stephan die Zeit für gekommen, seine Macht zu festigen und den Königstitel zu erlangen. Im Herbst des Jahres 1000 schickte er deshalb Gesandte zum Papst mit dem Auftrag, um Krone und Königstitel zu bitten. Für ihn war es wichtig, daß er nicht vom deutschen Herrscher, sondern vom Papst Unterstützung erhielt. So wurde er im Hinblick auf kirchliche Fragen zwar von Rom abhängig, jedoch kein Vasalle des Deutschen Reiches. Papst Silvester II. erfüllte die Bitte Stephans - im Einvernehmen mit Kaiser Otto III.
Bei Anbruch des neuen Jahrtausends - den verschiedenen Zeitrechnungen zufolge entweder am 25. Dezember 1000 oder am 1. Januar 1001 - krönte man Stephan in Esztergom (Gran) zum König, und damit war Ungarn in die christliche Gemeinschaft der europäischen Völker aufgenommen. Nun konnte in dem jungen Königreich auch der Aufbau einer Kirchenorganisation beginnen.
Zu Ostern des Jahres 1001 gründete der Papst die Erzdiözese Esztergom (Gran) und ließ Stephan freie Hand zur Organisierung weiterer Bistümer. Der erste Erzbischof war Radla, ihm folgte Asztrik, der frühere Bischof von Kalocsa. König Stephan gründete zehn Bistümer und sicherte auch ihren Unterhalt. Die Kirche verfügte über bedeutende Ländereien, die ihren ökonomischen Hintergrund bildeten. Daneben wurden sowohl die Zahlung eines Kirchenzehnten als auch der Bau von Kirchen und unter anderem der Kirchgang gesetzlich geregelt.
König Stephan betrachtete seine Macht als von Gott kommend; so erscheint es in seinen Urkunden, aber auch in der Einführung zu seinem ersten Gesetzbuch. Die königliche Macht symbolisierten veschiedene Insignien. Auf dem ursprünglich als Meßgewand gefertigten späteren Krönungsumhang aus dem Jahre 1031 sind die Krone, der Landesapfel und die Lanze zu sehen. Weitere Insignien waren das Schwert und das Zepter sowie das in späteren Jahrhunderten hinzugekommene Schwurkreuz.
Bei Gründung des Königreiches Ungarn konnte das Land seine staatliche Unabhängigkeit, also Souveränität bewahren. Ausdruck verlieh Stephan seiner Macht, indem er Geld prägen ließ, Gesetze erließ und Urkunden ausfertigte.
Die nach deutschem Muster einsetzende ungarische Münzprägung wirft zahlreiche strittige Fagen auf. Stephan schreibt die Forschung im allgemeinen zwei Prägungen zu. Eine davon ist der Denar; auf seinem Avers befindet sich die Umschrift LANCEA REGIS (die Lanze des Königs) mit einer Hand, die eine Flügellanze hält; auf dem Revers ist die Umschrift REGIA CIVITAS (königliche Stadt) und in der Mitte die Darstellung einer Kirche zu sehen. Nach den bislang ans Licht gekommenen Funden zu urteilen blieben davon nur wenige Exemplare erhalten. Die zweite Prägung ist der Obolus (Halbdenar): auf seinem Avers kann man die Umschrift STEPHANUS REX (König Stephan), auf dem Revers aber das auf Esztergom (Gran) bezogene REGIA CIVITAS lesen. Von diesem Münztyp wurde eine große Anzahl gefunden, die die Annahme nahelegt, daß dieses Zahlungsmittel im ganzen Land verbreitet war und nicht nur im Binnen-, sondern auch im Außenhandel in Umlauf gewesen sein dürfte.
Auch in der Gesetzgebung läßt sich der deutsche Einfluß erkennen. Zwei Gesetzbücher werden Stephan zugeschrieben, die insgesamt 56 Paragraphen umfassen. Allerdings gibt es kein solches Schriftstück, das alle diese Paragraphen enthielte. Wahrscheinlich hat man das Material mit den königlichen Bestimmungen erst nach dem Tode Stephans in die Form von Gesetzbüchern gekleidet. Allgemein verbreitete Auffassung ist, daß die Paragraphen des ersten Gesetzbuches noch aus den Anfangsjahren seiner Herrschaftszeit stammen, während er die des zweiten Gesetzbuches formulierte, als sich sein Leben dem Ende zuneigte; eine diesbezügliche Datierung jedoch ist darin nicht zu finden. Der Admonter Codex aus dem 12. Jahrhundert gliedert die Gesetze in zwei Teile: Den ersten Teil bildet das an seinen Sohn adressierte Büchlein, in welchem er diesen über die Sitten belehrt (Ermahnungen), der zweite Teil beinhaltet die Strafbestimmungen.
Die Gesetzgebung erfolgte im engen Kreis des den Kronrat bildenden Gremiums. Dem Kronrat (senatus) gehörten die Episkopalversammlung und die Gespane an, deren führende Vertreter der Erzbischof von Esztergom (als Vorsitzender des Episkopats) sowie der angesehenste unter den Gespanen, der Palatin, waren. Ihr Ratschlag half dem König bei seiner Entscheidungsfindung, durfte den königlichen Willen allerdings nicht einschränken.
Neun mit dem Namen Stephans gekennzeichnete Urkunden sind uns erhalten geblieben. Bei den meisten handelt es sich um Fälschungen aus dem 13. - 17. Jahrhundert, aber ein Teil von ihnen hat Elemente des 11. Jahrhunderts bewahrt. Lediglich drei authentische Urkunden können an das Zeitalter Stephans gebunden werden (die Gründungsurkunde der Abtei Pannonhalma, die Gründungsurkunde der Diözese Pécs /Fünfkirchen/ sowie die Urkunde des Bistums Veszprém). Diese Urkunden wurden von Schreibern der Kanzlei Kaiser Ottos III. ausgefertigt, die sich nach dem Tod des Kaisers, am 23. Januar 1002, in Ungarn niederließen. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Handschriften läßt sich besonders das Schaffen des Heribert C verfolgen, der die Gründungsurkunde von Pannonhalma formuliert und mit seinen charakteristischen Zierbuchstaben der Nachwelt die Gedanken König Stephans überliefert hat.
Mit Hilfe der wichtigsten zeitgenössischen Quellengruppe, der Gesetze, kann die Struktur der stephanzeitlichen Gesellschaft skizziert werden, die sich in zwei Teile gliederte; als grundlegendes Kriterium der Unterscheidung galt, ob der Mensch Freier (liber) oder Unfreier (servus) war.
Die in juristischer Hinsicht einheitliche Gesellschaftsschicht der Freien untergliederte sich weiter. An der Spitze der Machtpyramide stand der König (rex); seine unmittelbare Umgebung bildeten die Vertreter der Aristokratie, die Mitglieder des weltlichen und kirchlichen Hochadels. Entsprechend ihrer Vermögenslage unterschieden die Gesetzte daneben folgende Gruppen von Freien: Gespan (comes), Ritter (miles), Gemeiner (vulgaris). Die die Mittelschicht bildenden Ritter (milites) leisteten Waffendienste und hatten Vermögen (Häuser, Ländereien, Knechte). Das Vermögen der Gemeinen (vulgari) war unbedeutend (ihr Pferd, ihre Waffen); sie hatten pro Familie die sog. Herdsteuer, den Denar der Freien zu entrichten. Leicht konnte es geschehen, daß sie verarmten, womit sie immer mehr ihrer persönlichen und politischen Rechte verloren und langsam auf die Ebene der Unfreien absanken.
Den Knechten (servi) stand keines jener persönlichen und politischen Rechte zu (Recht auf freie Eheschließung, Wahl des Wohnortes, testamentarische Verfügung, Tragen von Waffen, Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten), die unter dem Namen öffentliche oder Freiheitsrechte (aurea libertas) zusammengefaßt werden können.
Angriffe gegen die neue Ordnung
Nach der Krönung wurde Stephan der König Ungarns, in Wirklichkeit aber erstreckte sich seine Herrschaft nur auf West- und Nordungarn. Im östlichen Landesteil standen seiner Politik der Landesvereinigung und Zentralisierung bedeutende Kräfte gegenüber.
Als ersten gelang dem König - im Jahre 1003 - seinen Onkel mütterlicherseits, den in Siebenbürgen herrschenden Gyula, zu unterwerfen. Der Gyula und sein Volk lebten nach heidnischen Sitten, er verweigerte den Gehorsam und war bestrebt, ein selbständiges, unabhängiges Fürstentums zu errichten. Stephan selbst führte den Feldzug gegen den abtrünnigen Gyula an, der sich dem Heer seines Verwandten letztendlich doch nicht entgegenstellte und sich ergab. König Stephan entzog ihm die Herrschaft über die Provinz - womit er die Macht über ganz Siebenbürgen erlangte - und gründete anschließend das Bistum Siebenbürgen.
Der nächste Gegner Stephans im Laufe der Kämpfe um die Bildung eines einheitlichen Staates war Ajtony, der in dem von den Flüssen Körös und Theiß, der unteren Donau und dem Siebenbürgischen Mittelgebirge begrenzten Gebiet eine eigene Herrschaft aufgebaut hatte. Ajtony war zwar der Ostkirche beigetreten, führte aber - wie noch so viele zu dieser Zeit - ein heidnisches Leben. Er widersetzte sich dem König, trat im eigenen Gebiet als souveräner Herrscher auf. Das königlich Heer zog um 1008 unter Führung von Csanád gegen ihn ins Feld und trug den Sieg davon. Im Gebiet Ajtonys wurde zunächst das Komitat Csanád und 1030 dann die Diözese Csanád gegründet, deren erster Bischof der aus Venedig stammende Gerhard (Gellért) war.
Durch eine Reihe weiterer militärischer Siege gelang es Stephan schließlich, im Karpatenbecken ein politisch und religiös einheitliches Staatsgefüge zu schaffen. Da ihm die Lösung der inneren Probleme sehr viel Energie abverlangte, setzte er in den Außenbeziehungen des Landes die Friedenspolitik seines Vaters fort. Mit dem deutschen Kaiserreich, mit Venedig und Byzanz ging er Bündnisse ein. Kam es dennoch zum Kampf, erwies er sich immer als erfolgreicher Feldherr. Im Falle eines Kriegszuges konnte der ungarische König auf seine eigene Streitmacht, die Militärkraft der Burgkomitate, die militärischen Gefolgschaften der weltlichen bzw. kirchlichen Obrigkeiten sowie mit der Hilfe einzelner privilegierter Völker rechnen.
Als Verbündeter von Byzanz errang König Stephan 1015 einen Sieg über die Bulgaren. Im Jahre 1017 drangen polnische Truppen in Ungarn ein, um Gyula zu Hilfe zu eilen, erlitten jedoch eine Niederlage. 1018 schloß der ungarische König mit dem Fürsten Polens Frieden. Ein gutes Verhältnis entwickelte sich nach 1019 zwischen Ungarn und dem Herrscher von Kiew, Jaroslaw dem Weisen. Als Beweis dessen wurden russische, warägische Krieger an den Hof Stephans entsandt, die man in die königliche Leibgarde eingliederte, an deren Spitze Herzog Emmerich stand. Nach dem Zusammenbruch Bulgariens im Jahre 1018 trat auf dem Balkan Ruhe ein. Von da an hatten Ungarn und Byzanz bis zum Ende des 12. Jahrhunderts eine gemeinsame Grenze.
Der von den Zeitgenossen in ganz Europa geschätzte Herrscher öffnete nach 1018 auch den ungarischen Abschnitt der Pilgerstraße nach Jerusalem; in diesem Abschnitt standen die Reisenden unter seinem Schutz. Damit schaltete sich Ungarn in den wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Kreislauf zwischem dem östlichen und westlichen Teil Europas ein. Da diese Pilgerroute nicht an Esztergom (Gran) vorbeiführte, schuf sich Stephan in Székesfehérvár einen neuen Sitz, wo er eine Kathedrale mit ansehnlichen Ausmaßen erbauen ließ. Die Kirche sollte als königliche Kapelle und Begräbnisstätte dienen. An diesem Königssitz fanden in späterer Zeit die jährlichen Gerichtstage statt, wo ein jeder dem König sein Anliegen vortragen konnte.
Im Jahre 1030 galt es für das Königreich Ungarn, eine der größten Kraftproben zu bestehen: Unter Führung Kaiser Konrads traf das Land ein Angriff von deutscher Seite, und gleichzeitig damit griffen auch die Böhmen an. Ziel des Kaisers war es, sich Ungarn zum Vasallen zu machen und die Grenzen des Karolingerreiches wiederherzustellen. Doch das deutsche Heer mußte eine Niederlage einstecken. Das gut ausgebaute Grenzverhausystem und die mithilfe der Taktik der verbannten Erde hervorgerufene Hungersnot rieben die gegnerische Streitmacht auf und zwangen sie zur Umkehr. Im Zuge ihrer Verfolgung nahm Stephan auch Wien ein. Der 1031 besiegelte deutsch-ungarisch-böhmische Frieden brachte dem ungarischen Königreich eine Erweiterung seines Territoriums entlang der Flüsse Leitha und March.
Was die Thronfolge anbelangt, hielt Stephan die Eignung zum Herrschen (Idoneitas) für das wichtigste Kriterium, wie es auch in seinen Ermahnungen zu lesen ist. In seinen letzten Lebensjahren stand der König diesbezüglich vor einer schwierigen Entscheidung. Der ältere seiner beiden Söhne, Otto, war früh verstorben. So wurde Emmerich der Thronfolger, dem er durch den gelehrten Bischof Gerhard eine sorgfältige Erziehung zuteil werden ließ. 1031 traf die königliche Familie und damit das ganze Land ein schwerer Schlag: Herzog Emmerich kam bei einer Eberjagd ums Leben.
Nach dem Tod seines zweiten Sohnes mußte sich Stephan schleunigst nach einem neuen Thronfolger umsehen. Schließlich setzte er als Nachfolger seinen Neffen Peter von Orseolo ein, der aus der Ehe einer seiner Schwestern mit dem Dogen von Venedig hervorgegangen war und nach dem Sturz seines Vaters in Italien seit 1026 am ungarischen Königshof lebte. König Stephan adoptierte ihn. Mit dieser Entscheidung zerstörte er die Hoffnungen, die Vazul und Ladislaus Szár, die beiden Söhne seines Onkels Mihály, in bezug auf die Thronfolge gehegt hatten.
1032 versuchten sie, den kränkelnden König bei einem Anschlag zu beseitigen. Doch der Plan mißlang und zog schwere Strafen nach sich. Der König ließ Vazul blenden und ihm heißes Blei ins Ohr gießen, so daß er zum Herrschen untauglich wurde, dessen Söhne Levente, András und Béla aber verwies er des Landes. Der Thronfolger, Peter von Orseolo, mußte einen Eid ablegen, daß er Stephan gehorchen, Königin Gisela in Ehren halten, ihr Hab und Gut nicht anrühren und gegen jedermann verteidigen werde.
Der erste ungarische König verstarb am 15. August 1038. Seinem letzten Willen entsprechend bestattete man ihn in der Kathedrale zu Székesfehérvár. Im Jahre 1083, zur Herrschaftzeit von König Ladislaus, wurde er heiliggesprochen. Die Erinnerung an ihn und seine Reliquien haben die Jahrhundert überdauert.
