Zurück zum Inhaltsverzeichnis

UNGARISCHE SPRACHE

SPRACHGESCHICHTLICHE EINFÜHRUNG
VORUNGARISCHES ZEITALTER
URUNGARISCHES ZEITALTER
ALTUNGARISCHES ZEITALTER



SPRACHGESCHICHTLICHE EINFÜHRUNG

Die eigenständige Geschichte der ungarischen Sprache begann vor rund dreitausend Jahren, als das ungarische Volk, sich aus der bisherigen Sprachgemeinschaft (vorungarisches Zeitalter) lösend, sein Leben unter neuen historischen Bedingungen fortsetzte. Die ungarische Sprachgeschichte besteht aus verschiedenen Perioden (urungarische: um 1000 v. Chr. - 896 n. Chr., altungarische: 896 - 1526, mittelungarische: 1526 - 1772, neuungarische: 1772 - heute). Diese Zeitalter sind, als Zeichen für die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen und sprachlichen Veränderungen, mit historischen Ereignissen bzw. Wendepunkten verknüpft. (Der hier geschilderte Themenkreis umspannt einen sprachgeschichtlich abgegrenzten, sich vom vor- bis zum altungarischen Zeitalter erstreckenden mehrtausendjährigen Zeitraum.)

Seit zweihundert Jahren durchgeführte sprachgeschichtliche Forschungen haben mit den Methoden der vergleichenden Sprachwissenschaft nachgewiesen, daß die ungarische Sprache ein Mitglied der finnisch-ugrischen Sprachfamilie ist, die noch ältere Verwandtschaft zu den samojedischen Sprachen zeigt. Die finnisch-ugrischen und samojedischen Sprachen gehören zur uralischen Grundsprache. Etwa um 4000 v. Chr. zerfiel diese Sprachgemeinschaft in die beiden vorgenannten Zweige. Die entferntesten Verwandten der Ungarn leben in der Gegend des Jenisej; noch heute lebendige samojedische Grundsprachen sind die Sprachen der Nenzen, Nganassanen, Enzen und Sölkupen.

Die Einheit der finnisch-ugrischen Sprachen löste sich um 2000 v. Chr. auf, als die beiden großen Gruppen in jeweils andere Richtungen wanderten. Der finnisch-permische Zweig brach nach Westen auf, die die ugrische Grundsprache sprechende Gemeinschaft blieb auf der Ostseite des Ural. Um die Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. trennte sich die finnisch-permische Grundsprache in den Zweig der permischen Grundsprache - zu ihr gehören die Sprachen der Sürjenen (Komi) und Votjaken (Udmurten) -, sowie den Zweig der finnisch-wolgaischen Grundsprache, deren noch heute lebendige Sprachen das Finnische, Estnische, Lappische, Mordwinische usw. sind.

Zur Teilung der ugrischen Grundsprache kam es nach 1000 n. Chr. Als nächste Sprachverwandte der Ungarn sind die in Westsibirien verbliebenen Vogulen (Mansen) und Ostjaken (Chanten) anzusehen, die jetzt entlang des Ob leben. Die Ungarn aber begaben sich auf einen langen, heute nur noch schwer verfolgbaren Weg in Richtung Westen.

Das Siedlungsgebiet der eine gemeinsame Sprache sprechenden uralischen Sprachfamilie läßt sich mit Hilfe der linguistischen Paläonthologie bestimmen. Dieser Annäherungsweise zufolge lag die Urheimat des Uralischen im Gebiet zwischen Mittel- und Südural sowie dem Unterlauf des Ob, während sich die Urheimat des Finnisch-Ugrischen westlich davon, zwischen Uralgebirge und dem Fluß Kama befunden haben dürfte, allerdings weiß man das heute noch nicht mit Sicherheit. Das lockere Zusammenleben der uralischen Gemeinschaft löste sich um 4000 v. Chr. auf. Von da an kann vom Zeitalter des finnisch-ugrischen Zusammenlebens gesprochen werden.

Den vor der selbständigen ungarischen Sprachgeschichte liegenden Zeitraum nennt man vorungarisches Zeitalter. Die mit der finnisch-ugrischen Sprachfamilie verbindende Sprachverwandtschaft ist jedoch nicht gleichbedeutend mit enthnischer Verwandtschaft bzw. identischer Abstammung.

VORUNGARISCHES ZEITALTER

Die Sprache ist stets ein Spiegel der Kultur, Bildung und Denkweise eines Volkes. Den zum Alltagsleben gehörenden Worten des Grundwortschatzes kommt in der ungarischen Sprache eine bestimmende Rolle zu. Die Zahl der Wörter finnisch-ugrischer Herkunft liegt bei 700. Diese uralten Begriffe werfen Licht auf die Lebensweise der einstigen Gemeinschaft.

Auf die damalige Bedeutung der Jagd und des Fischfangs verweisen beispielsweise die Wörter für Jäger, Sehne, Bogen, Pfeil, Köcher, Messer, Wildnis, Lauer, Hase, Fuchs, Marder, Birkwild, Gans; Fisch, Schiff, Netz, Weißfisch, See, Wasser...

Unter den mit der Arbeit der Frauen verbundenen Begriffen gehören dazu: Wurzel, Zwiebel, Schale, Knospe, Blatt, Gras, Erdbeere, Hirse, Stein, Brot, Feuer, Topf, kochen, Spieß, backen... Ebenso dem vorungarischen Zeitalter entstammen Pferd, Zaum, Sattel und Hund. Die Worte für Haus, Schwelle, legen (setzen, stellen) und Zweig dürften auf eine Art einfaches Zelt oder Grubenhaus bezogen sein. Und im Zusammenhang mit der Bekleidung blicken auch die Namen für Leder, nähen, Ärmel, Busen, Gürtel und Band auf eine so lange Vorgeschichte zurück.

Wörter der verschiedenen Gewerke sind: Ahle, schnitzen, bohren, Bohrer, Axt, wetzen, Rute, flechten... Von außerordentlicher Bedeutung muß die Bezeichnung des Verwandtschaftsgrades gewesen sein: Vater, Mutter, Schwiegertochter, Sohn, Tochter, Ehemann, Frau... Auf den Bildungsstand der Vorfahren verweisen die Zahlen, die von eins bis sechs finnisch-ugrischen Ursprungs sind, doch auch die Worte des Dezimalsystems dürften sie gekannt haben, ebenso wie die Zahl 100. Beispiele für die grundsprachliche Kenntnis der Serienzahlen sind die Worte erste und zweite.

Das Verb "lesen" hatte die Bedeutung "zählen". Die Begriffe für rechts und links deuten auf die räumliche, die Namen für Jahr, Schnee sowie Herbst, Winter und Frühling hingegen auf die zeitliche Orientierung.

Den Naturerscheinungen gab man ebenfalls Namen: Firmament, Himmel, Stern, Nacht, Morgen, Eis, Hitze, Frost, Berg, Weg, glühen, dunkel, Hügel. Zur Grundsprache gehören ferner die Bezeichnungen der Körperteile, wie beispielsweise: Kopf, Haar, Stirn, Auge, Ohr, Mund, Zunge, Zahn, Kinn, Schulter, Finger, Brust, Galle, Leber, Hand, Ellbogen, Haut, Ader, Blut...

Auch zur Benennung der Grundtätigkeiten blieben in der ungarischen Sprache Wörter aus dieser Zeit erhalten: stehen, kommen, gehen, schlafen, schwimmen, essen, trinken, leben, sterben, sein, wünschen, stoßen, geben (reichen), säumen (einfassen), (ab)schneiden, werfen, spielen, lachen. Und unter den Pronomen sind "ich, du, er (sie, es), wir, ihr" oder "wer? und was?" sowie "der (die, das) und dieser (diese)" finnisch-ugrischer Herkunft.

Schließen wir die Aufzählung mit der Eigenbenennung, dem Wort Magyar (Ungar). Der Name des ungarischen Volkes ist eine im Dunkeln liegende Wortverbindung. Die erste, dem Finnisch-Ugrischen oder Ugrischen entstammende Silbe bedeutet vermutlich "Mensch". Der Ursprung der zweiten Silbe ist umstritten. Sollte sie einer der türkischen Sprachen entnommen sein, wäre ihre Bedeutung "Mann", wurde sie aber aus der finnisch-ugrischen Sprache überliefert, dann wäre sie mit der zweiten Silbe des Wortes "Mann" identisch.

Die Grammatik dürfte zu damaliger Zeit noch sehr einfach gewesen sein. Aus dem Finnisch-Ugrischen stammen die Possesivpronomen, die sich aus den Personalpronomen entwickelt haben. Ein Teil der Konjugation ist ebenfalls grundsprachlich. Auch die Entwicklung der Verbalweisen beginnt. Dekliniert wurden die Wörter wahrscheinlich noch nicht, und häufig benutzte man sie wohl in undeklinierter Form. Die Lokalbestimmung erfolgte vermutlich durch Umschreibung, mit Hilfe von Adverbien. Noch unsicherer ist die Rolle der Suffixe; sie dürfte mannigfaltiger, ihre Anwendung zufälliger gewesen sein. Das Attribut stand ohne Abstimmung vor dem gekennzeichneten Wort. Nach dem Zahlwort folgte das Singular, Subjekt und Prädikat stimmten in der Zahl noch nicht überein. Für die Deklination dürfte es Einzahlformen gegeben haben. Als Prädikat konnte auch ein Substantiv, Verb oder Partizip vorkommen.

Ebenso einfach dürfte das Lautsystem gewesen sein, auf dessen Elemente wir mangels Angaben nur schlußfolgern können. Sicher scheint, daß die Vokale in einander abwechselnder Reihenfolge gestanden haben müssen. Die Vokalharmonie war der Grundsprache geläufig, in einem Wort gab es entweder nur tiefe oder nur hohe Vokale. Die Betonung lag wahrscheinlich auf der ersten Silbe. Am Ende von Worten, aber auch Silben und Endungen stand immer ein Vokal.

URUNGARISCHES ZEITALTER

Nach dem vorungarischen folgt in der sprachgeschichtlichen Periodisation das urungarische Zeitalter, welches von der Lösung aus der ugrischen Sprachgemeinschaft, also von der Zeit um 1000 v. Chr., bis zur Landnahme im Karpatenbecken dauerte. Da es aus diesem Zeitraum keine Sprachdenkmäler gibt, wird es das Zeitalter ohne Sprachdenkmäler genannt.

Im Laufe seiner Wanderungen dürfte das Ungartum seinen aus der Periode des finnisch-ugrischen Zusammenlebens geerbten Wortschatz sowie das grammatische System erweitert haben. Zu dieser Entwicklung trugen die sich von Zeit zu Zeit verändernde Umgebung und der Einfluß benachbarter Völker bei. Besonders an der Bereicherung des sich am flexibelsten ändernden Wortschatzes kann man die kulturellen Einflüsse verfolgen. Zahlreiche Lehnwörter sind Beweis für die intensiven Nachbarbeziehungen.

Die Zahl unserer alttürkischen Lehnwörter beträgt rund 300. Doch nicht ihre Menge, sondern in erster Linie ihr Charakter zeigt, welch tiefgreifende Wirkung sie auf die ungarische Kultur ausgeübt haben müssen. Im Vergleich zu den früheren Zeitaltern sind dies die Worte einer grundlegend neuen Lebensweise.

Mit Begriffen aus den alttürkischen Sprachen wurde unter anderem der Wortschatz in bezug auf die Tierhaltung bereichert: Stier, Ochse, Lamm, Ziege, Widder, Käse, Quark, Wolle, Fessel, Zügel, Pferch, Stall, Schwein, Huhn, Kamel. Auch im Zusammenhang mit dem Ackerbau erbte die ungarische Sprache einige Begriffe: Gerste, Weizen, Sichel, Pflug, Stoppelfeld, mahlen, Obst, Apfel, Birne, Nuß, Hopfen, Weintraube, Wein, Erbse. Handwerke bezeichnen Zimmermann, Kürschner, Krämer; auf die Bekleidung beziehen sich Wörter wie Überrock, Samt, Schnalle, Perle, Fingerring, schicklich, Spiegel. Zum Bereich des gesellschaftlichen und religiösen Lebens gehören die Begriffe: Gesetz, Dolmetscher, Zeuge, Frieden, Miete, Kredit, Trauer, Hexe, Drachen, (be)hexen und (ver)zaubern.

Alttürkischer Herkunft sind in der ungarischen Sprache beispielsweise Arm, Knie, Fußknöchel, Bart, Sommersprosse sowie einige auf Eigenschaften verweisende Worte: klein, winzig, schwach, alt, blau, gelb, mutig und feige.

An die Flora und Fauna der natürlichen Umgebung erinnern Löwe, Dachs, Bussard, Geier, Turul, Falke; Herlitze, Schlehe, Hagebuche, Esche, Unkraut, Rohrmatte, Nessel, Hanf.

Nicht Nachbarschafts-, sondern Handelsbeziehungen verbanden die Vorfahren der Ungarn mit den Persern, wie die Lehnworte Zoll und Markt (Messe) belegen, sowie mit den iranischen Alanen, wofür die Wörter Brücke und Glas, aber auch Harnisch, Schwert, Dame (Fürstin), reich, Kuh, Milch, Butter (Fett), Filz und zehn Beweise sind.

Wie die Lehnwörter bezeugen, hatte das Ungartum bereits vor der Landnahme Kontakt zu slawischen Völkern und Sprachen. Damals übernahm es die Bezeichnungen für Donau, Grieche, Pole, Gehöft, Reuse und Woiwode.

Auch auf dem Wege der Ableitung und Zusammensetzung erfuhr der ungarische Wortschatz Bereicherung. Neue Silben und Silbegruppen bildeten sich heraus. In dieser Zeit enstanden durch Ableitungen beispielsweise die Worte Gott, Fürst, Quelle und Macht.

Das ungarische Lautsystem durchläuft eine große Veränderung; es wird reicher und steht dem heutigen System mit Konsonanten bereits näher. Das gemischte Lautsystem entwickelt sich.

In der Grammatik lassen sich die ersten Grundlagen der heutigen grammatischen Ordnung beobachten, ihre auf dem finnisch-ugrischen Erbe basierenden, bestimmenden Merkmale bilden sich heraus.

ALTUNGARISCHES ZEITALTER

Das altungarische Zeitalter ist jene Periode der ungarischen Sprachgeschichte, die mit der Landnahme im Karpatenbecken beginnt und bis 1526 andauert. Prozesse des Sprachenwandels vollziehen sich innerhalb eines langen Zeitraumes, und da die vorliegende Untersuchung mit Beginn obigen Zeitalters abschließt, können hier lediglich die Entwicklungsrichtungen dieser Veränderungen berührt werden. Doch da selbst im Fall eines sich sehr flexibel wandelnden Wortschatzes der Zeitpunkt der Veränderungen nicht auf einige Jahrzehnte einzuengen ist, läßt es sich nicht vermeiden, in mehreren Fällen auch auf die sprachhistorischen Erscheinungen des Zeitraumes nach der Staatsgründung zu verweisen.

Nach der Landnahme im Karpatenbecken beginnt parallel zur Fortsetzung der halbnomadischen und ackerbestellenden Lebensweise eine neue Kultur Fuß zu fassen. Der Einfluß des östlichen und westlichen Christentums, die Lebensweise der hier ansässigen Ackerbauern und Viehzüchter setzt in der Geschichte des Ungartums vom 11. Jahrhundert an eine bedeutende Etwicklung auf dem Gebiet der geistigen und materiellen Kultur in Gang. In sprachlicher Hinsicht zeigt sie sich am schnellsten im ungarischen Wortschatz.

Mit den Methoden der Wortbildung, hauptsächlich durch Zusammensetzung, enstanden sehr viele neue Wörter.

Von Einfluß auf den Wortschatz des seßhaften Ungartums waren in erster Linie die slawische, deutsche und lateinische Sprache; später begegnet man auch italienischen bzw. französischen Einflüssen. Den slawischen Sprachen wurden vor allem Ausdrücke im Zusammenhang mit der Tierhaltung und dem Ackerbau entlehnt: Getreide, Roggen, Stroh, Egge, Sense, Bohne, Pfirsisch, Rübe, Schaf, Lamm, Hahn, Taube, Joch, Heu und Hirte. Slawischen Ursprungs sind die an Handwerksberufe gebundenen Substantive wie Böttcher, Schmied, Weber, Mühle, Damm, ebenso wie die an das Haus anknüpfenden Wörter für Küche, Keller, Fenster, Schlüssel, Bank, Tisch und Mittagessen. Auch der auf das Staats- bzw. Kirchenwesen bezogene ungarische Wortschatz weist viele slawische Lehnwörter auf: Kreuz, Christ, Mönch, Nonne, heilig, Wunder, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Weihnachten, Kaiser, König, befehlen und Arbeit.

Aus dem Deutschen übernahm die ungarische Sprache in erster Linie Begriffe des höfischen und militärischen Lebens: Herzog (Prinz), Graf, Pelz, Panzer, Rost, Ger (Speer), Belagerung, Kastell (Schloß), Ofen und Laute.

Die lateinische Sprache trug in außerordenlicher Weise zur Entstehung des ungarischen Schritftums bei, sowohl was den Stil als auch das äußere Erscheinungsbild anbelangt. Ihr verdanken wir hauptsächlich die im Zusammenhang mit dem religiösen Leben und dem Staatswesen stehenden Wörter und Begriffe: Schule, Kloster, Papst, Engel, Satan, Pfarrer, Apostel, Krone und Liste (Register).

Aufgrund lauthistorischer Vergleiche läßt sich sagen, daß die Zahl der Konsonanten im Ungarischen durch Weiterentwicklung finnisch-ugrischer Laute und Lautverbindungen zum Ende der urungarischen Periode gewachsen war. Die Laute der Lehnwörte paßten sich dem ungarischen Lautsystem an. Die Konsonanten vom Anfang des altungarischen Zeitalters stehen den heutigen schon näher.

Für die Geschichte der ungarischen Sprache ist die altungarische Periode bereits eine Zeit mit Sprachdenkmälern. Selbst wenn man noch nicht von einem ungarischsprachigen Schrifttum sprechen kann, hielten unsere Vorfahren vermutlich schon damals kürzere oder längere Texte in Kerbschrift fest. Sprachliche Denkmäler aus diesem Zeitraum sind vereinzelte Texte in griechischer oder lateinischer Sprache und vom Ende des 12. Jahrhunderts an dann ganze Schriften.


Zurück zum Seitenanfang