ANFÄNGE DES SCHRIFTTUMS
Mit der Übernahme des Christentums nimmt in der ungarischen Literatur die Schriftlichkeit ihren Anfang, zunächst allerdings nicht in ungarischer, sondern in lateinischer Sprache. Die lateinische Schrift und Literatur übten wesentlichen Einfluß auf die Herausbildung des späteren ungarischen Schrifttums aus, sowohl was seinen Inhalt als auch seine Form und Gattungen anbelangt.
Die Vorfahren der Ungarn wurden durch ihren Kontakt zu Byzanz mit dem Christentum bekannt. Die erste ungarische Diözese war eine griechisch-orthodoxe, und mehrere vornehme Ungarn ließen sich nach griechischem Ritual taufen. Géza wandte sich gleichzeitig der griechischen und der römischen Kirche zu.
Die wichtigste Rolle bei der Kirchenorganisation und Bekehrung spielten die Benediktiner. Ihre erste Ordensgemeinschaft gründeten sie um 996 auf dem St. Martinsberg, dem heutigen Pannonhalma, der eine ganze Reihe von Klöstern folgten. Unter Stephan dem Heiligen bildeten sich die organisatorischen Rahmen zur Entfaltung der mittelalterlichen Kultur heraus, im 11. Jahrhundert enstanden die ersten Werke der Kirchenkunst. Die Schreibkundigen kamen aus den Reihen der hohen Geistlichkeit, ein großer Teil der unteren Priesterschaft konnte im Höchstfall lesen.
Das Schreiben war eine langwierige, schwere Arbeit. Geschrieben wurde auf teuerem Pergament, das handgeschriebene Buch, der Codex, verkörperte einen großen Wert. Die Arbeit der Kopisten schätzte man hoch. In Klöstern gab es eine Bibliothek und im allgemeinen auch eine Werkstatt zum Abschreiben von Büchern (scriptorium).
Die Anfänge der lateinischen Literatur in Ungarn waren mit dem Bestreben verbunden, die Ansprüche des Staates und der Kirche zu befriedigen. Ihr größter Teil ist spurlos verschwunden, auf ihre Existenz kann nur geschlossen werden. Gleichzeitig mit der Organisierung des Staatswesens bildet sich die staats- und rechtswissenchaftliche Literatur heraus: die Urkunde und der Brief, das Gesetz und der Königsspiegel.
Urkunden wurden nach byzantinischem oder westlichem Muster ausgefertigt. Das erste - als Kopie - erhalten gebliebene Schriftdenkmal ist die aus dem Jahre 1002 stammende Gründungsurkunde von Pannonhalma. Der Brief entsprach - ebenso wie die Urkunde - gebundenen Formvorschriften. Auch dem dürfte eine Rechtsfunktion zugekommen sein. Beide haben für die Herausbildung des anspruchsvollen Stils eine wichtige Rolle gespielt.
Die Reihe der Gesetze wird von den beiden Büchern mit den Dekreten König Stephans eröffnet. Das erste Buch, es stammt aus der Anfangszeit seiner Herrschaft, bestand aus Strafgesetzen vor allem zum Schutze des Privateigentums (es erschien um 1001). Das zweite Buch bilden die Regelungen im Zusammenhang mit der Kirche (verfaßt zwischen 1030-1038). Ihre älteste überlieferte Handschrift hat der Admonter Codex aus dem 12. Jahrhundert aufbewahrt, der ausschließlich die Gesetze des hl. Stephan beinhaltet.
Wichtigstes Denkmal der frühen Literatur Ungarns sind die Ermahnungen König Stephans an seinen Sohn Emmerich. Der Königsspiegel ist eine populäre Kunstgattung des Frühmittelalters, welcher in Form von moralischen Ermahnungen die Regierungskunst, die Wissenschaft des Herrschens vermittelt. Den antiken Traditionen folgend erscheint er als das Kredo, als eigene Lehren eines Herrschers von hohem Ansehen. Die Entstehungszeit des Werkes wird vom Todesjahr Herzog Emmerichs bestimmt. Danach dürfte es auf jeden Fall vor 1030, vermutlich in den ersten Jahren nach 1010 entstanden sein.
Der Schreiber der Ermahnungen ist ein gelehrter Kirchenmann ausländischer Herkunft gewesen, der die hergebrachten literarischen Wendungen den speziellen Verhältnissen in Ungarn anpaßte. In zehn Kapiteln schildert er detailliert die Aufgaben eines Herrschers, die zur Hälfte von den Pflichten gegenüber der christlichen Religion und Kirche, von der Unabdingbarkeit religiöser Tugenden handeln. Die übrigen Teile des Werkes beziehen sich auf die Lenkung des Staates.
Eine bedeutende Gattung der lateinischsprachigen ungarischen Literatur, die Legende, entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts. Legendenumwoben sind mehrere Persönlichkeiten aus der Zeit Stephans des Heiligen, diese Legenden enstanden im Zusammenhang mit den Vorbereitungen zu ihrer Heiligsprechung oder danach.
Autor der ersten in Ungarn entstandenen Legende war Mór (Moritz), Bischof von Pécs (Fünfkirchen). Er schrieb die Lebensgeschichten des Zoerard-Andreas und des Benedikt nach 1064 auf. Die Gestalt des Bischofs Mór taucht auch in der St. Emmerich-Legende auf. Er ist es, der während seiner Zeit als Ordensbruder in Pannonhalma den jungen Prinzen Emmerich für dessen religiösen Eifer mit sieben Küssen auszeichnet. Mór gehörte zu den ersten hohen Geistlichen ungarischer Abstammung. In der Legende beschreibt er das asketische Leben der beiden Einsiedler in kurzen, einfachen Worten und in sachlichem Ton.
Das große Legendarium des hl. Stephan entstand zwischen 1077-1083 als Werk unbekannter Benediktinermönche. Hier wird Ungarn zum ersten Mal als Reich der Gottesmutter (Regnum Marianum) bezeichnet, und damit macht man seinen Abstand zum Papsttum deutlich. Denn Maria steht in der himmlischen Hierarchie höher als St. Peter, weshalb Ungarn nicht Teil des "terra sancti Petri" (Land des hl. Petrus) sein konnte.
Die Kleine St. Stephans-Legende stammt aus der Herrschaftszeit König Kolomans (1095-1116). Sie hebt die Entschlußkraft Stephans als Herrscher und seine grammatische Bildung hervor - gleichsam als Projektion der Tugenden des Nachfolgers, Kolomans.
In der dritten, von Bischof Hartvik verfaßten Legende über Stephan den Heiligen taucht erstmals die Entsendung der Krone durch den Papst auf. Doch die Legende sieht diesen Umstand als göttliche Fügung an und betont damit die Unabhänigigkeit vom Papst.
Das Original der großen Legende über den hl. Bischof Gellért (Gerhard) stammt aus dem 11.-12. Jahrhundert, heute kennt man sie nur in ihrer umgeschriebenen, erweiterten Form des 14. Jahrhunderts. Ihr unbekannter Verfasser hat das Leben des Bischofs zu einer farbenfrohen Geschichte, fast zu einer Novelle abgerundet. Man findet darin an Volksmärchen erinnernde Wendungen, sie ist eine der herausragenden Schöpfungen der arpadenzeitlichen ungarischen Literatur. Ein anderes Werk, die kleine St. Gellért-Legende, dürfte in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts zu Predigtzwecken geschrieben worden sein.
Die Legende vom hl. Emmerich - sie entstand nach 1083, also nach seiner Heiligsprechung - hält die Keuschheit des Prinzen für seine wichtigste Tugend, und bietet damit den Geistlichen der Zeit mit ihrer Formulierung ein nacheifernswertes Beispiel.
Die Anfänge der Geschichtsschreibung fallen in den Zeitraum, als man mit der Organisierung der kirchlichen Institutionen begann. Zuerst wurden nur kurze Aufzeichnungen gefertigt.
Laut Zeugnis der erhalten gebliebenen Schriftdenkmäler waren die Mönche auf dem St. Martinsberg (in Pannonhalma) von 997 an damit befaßt, Annalen (Jahrbücher) anzulegen, die uns das Jahrbuch von Pozsony (Preßburg) überliefert hat. Hier kann man unter anderem das Jahr nachlesen (1030), als der hl. Gerhard zum Bischof geweiht wurde.
Im 11. Jahrhundert verbreitete sich auch in Ungarn die Kunstgattung der Gesta und Chronik. Anonymus (Magister P.) erzählt in seinem Werk aus dem 13. Jahrhundert mit dem Titel Gesta Hungarorum die Vergangenheit der edlen ungarischen Nation von der Urheimat bis zur Zeit der Streifzüge, wobei er die Geschichte von der Suche nach einer neuen Heimat und der Landnahme besonders betont. Seine romanhafte Gesta ist eher als ein literarisches denn historisches Werk anzusehen.
Simon Kézai, Priester am Hofe König Ladislaus IV., schrieb seine Chronik um 1283. Als Quellen zog er dazu die eine oder andere frühere ungarische Gesta, aber auch italienische, französische und deutsche Werke historischer Prägung heran. Seine Chronik erforscht die Urgeschichte des Ungartums, in der die Vorstellung von der Verwandtschaft zwischen Hunnen und Ungarn einen hervorragenden Platz einnimmt.
Das wertvollste Schriftdenkmal des Arpadenzeitalters aber ist die aus den 1360er Jahren überlieferte Képes Krónika (Bilderchronik). Ihre Bedeutung liegt darin, daß sie eine Zusammenfassung aller im 11.-14. Jahrhundert entstandenen Werke zur Geschichte des Ungartums gibt, und deshalb für die Forscher der frühen ungarischen Geschichte eine Grundlagenquelle darstellt.
