MUSIK
Schriftliche Spuren von der frühen ungarischen Musik sind nicht erhalten geblieben. Um die musikalischen Traditionen des landnehmenden Ungartums kennenzulernen, zogen Forscher in erster Linie Vergleiche zwischen der im 20. Jahrhundert gesammelten ungarischen Volksmusik und den Musikdenkmälern der verwandten Völker.
Dem Verfasser der russischen Urchronik, Nestor, zufolge eroberten die Lieder der Ungarn 885 sogar Kiew. Und Ekkehard erzählte in seiner um 1108 - also mehr als 150 Jahre nach dem ungarischen Feldzug des Jahres 926 - entstandenen Chronik von folgendem Vorfall: In dem verlassenen Kloster von Sankt Gallen trafen die Ungarn einen einfältigen Mönch namens Heribald an. Seine Einfalt erkennend, ließen sie ihn großmütig am Leben und luden ihn sogar zum Gelage ein. Nachdem von der im Keller vorgefundenen ansehnlichen Menge Weins nichts mehr übrig war, begannen sie gutgelaunt "in schrecklichen Tönen ihre Götter anzurufen". Ein ihrer Sprache mächtiger Dolmetscher und Heribald huben daraufhin mit heiserer Stimme an, die Antiphonie des Heiligen Kreuzes (Sanctifica nos - Segne uns) zu singen, denn anderntags - am 3. Mai - war der Feiertag des Heiligen Kreuzes. Die Ungarn lauschten verwundert dem für sie ungewohnten Gesang der Gefangenen, setzten dann aber ihr Gelage solange fort, bis die Hornsignale und Rufe der Späher sie auf das Nahen des Feindes aufmerksam machten.
Liutprand, Bischof von Cremona, erwähnt in seiner Beschreibung der Merseburger Schlacht des Jahres 933, daß sich die heidnischen Ungarn mit dem Schlachtruf "hui, hui" den Deutschen entgegenwarfen, die ihrerseits unter Absingen des Gebetes "Kyrie eleison" (Herr, erbarme dich) angriffen. Anonymus berichtet in seiner Gesta ebenfalls über die Vergnügungen der Vorfahren, und im Zusammenhang mit den Kämpfen um Kiew ist bei ihm an früherer Stelle auch von den Schlachthörner die Rede.
Ein wenig Licht auf die rituell gefärbte Musik des Ungartums werfen die Beschreibungen der nach dem Tode König Stephans ausgebrochenen Heidenauf-stände: 1046 versammelte János, der Sohn des Vata, viele Schamane und Seherpriester um sich, die ihrem Herrn mit Ritualgesängen huldigten; 1060 aber, als die Menge von dem hinter den Fehérvárer Mauern eingeschlossenen König Béla I. die Wiedereinführung der heidnischen Religion forderte, griffen ihre Führer das Christentum mit schmähenden Carmen (magischen Gesängen) an.
Laut Meinung der Forscher kann von mehreren Stilepochen ausgegangen werden, die zur Herausbildung der ungarischen Volksmusik beitrugen. Die erste größere Epoche läßt sich noch in den Zeitraum des ugrischen Zusammenlebens setzen, die zweite dürfte sich im Verlaufe des jahrhundertelangen Zusammenlebens mit den verschiedenen Türkvölkern entwickelt haben.
Eine archaische Form vertritt die älteste, vermutlich dem ugrischen Zeitalter entstammende Schicht der ungarischen Volksmusik, die Gruppe der Klagelieder; sie zeigt Verwandtschaft zu einer Gattung epischer Gesänge der Ostjaken. Bei dieser Art von Gesängen waren die rituellen und gedenkenden bzw. ins Gedächtnis rufenden, die lobpreisenden und den verstorbenen Helden beklagenden Elemente noch miteinander verflochten, die sich später dann verzweigten. Ihr Erinnerungsteil fand in den die Heldentaten der Ahnen besingenden Gattungen Fortsetzung, die lobpreisenden Töne in hymnischen Werken, ihre geisterbeschwörende Rolle aber lebte in den Klagegesängen weiter.
Typisch für sie ist das solistische Rezitativ, das heißt eine zur Hälfte gesprochene, zur Hälfte gesungene Vortragsweise. Bekannteste Abkömmlinge des Klagestils sind Balladen wie die vom großen Bergdieb und andere.
Während sich die Klagegesänge an den ugrischen Einfluß binden lassen, kann das Auftauchen der quintwechselnden pentatonischen Weisen in der ungarischen Musiktradition auf das viele Jahrhunderte währende Zusammenleben mit den türkischsprachigen Völkern zurückgeführt werden. In diesen Liedern spielten die nach heutigem Empfinden musikalische Schönheit sowie der Ausdruck von Gefühlen bereits eine größere Rolle. Bekanntestes Beispiel dafür ist das im Komitat Somogy überlieferte Volkslied vom Pfauen, der sich niederließ.
Vielleicht auf die Zeit der Landnahme und Staatsgründung gehen auch die an die Natur gebundenen Festtagszyklen zurück, deren musikalischer Stoff im Kreise des Volkes bis heute erhalten blieb. Die Gesänge der Spielleute sind Denkmäler des Festes der Wintersonnenwende; ihr Refrain allerdings entspricht musikalisch den von Byzanz ausgegangenen rituellen Refrainformeln. An den Gesängen, die an die Nacht der Sommersonnenwende erinnern, sowie den anderen musikalischen Elementen der mit dem Frühjahr verbundenen Volksbräuche erkennt man, wie die Einflüsse seitens der europäischen Agrarkulturen, Byzanz und der slawischen Völker in die ungarische Musik Eingang fanden.
Barden waren ursprünglich Spielleute, die ihre heidenzeitlichen Heldenlieder an Fürstenhöfen vortrugen. Die heutigen Interpreten der Volksmusik begleiten ihren Gesang mit lärmenden Instrumenten, unter Verwendung von Flöte, Topfinstrument, Kettenstab und Pfeife.
In einem Teil der Kinderlieder blieben musikalische Elemente der Naturmagie erhalten. Die Wiegen- und Schlaflieder passen sich dem Rythmus des Wiegens an; sie haben einfache Melodien, mitunter fast gar keine, und verwenden häufig Koseformen. Ebenfalls auf einen sehr weit zurückliegenden Ursprung deuten die stark rhythmischen Ab- oder Auszählreime und Sprüche hin.
Die Übernahme des Christentums führte in der ungarischen Musikkultur eine entscheidende Wende herbei: zusammen mit der neuen Religion hielt das um die Jahrtausendwende bereits zum Allgemeingut des europäischen Christentums gehörende kulturelle Erbe und Melodienrepertoire auch im Karpatenbecken Einzug. Ebenso wichtig war der Ausbau jenes Netzes von Institutionen, das es ermöglichte, diese geistigen Güter zu erhalten, zu pflegen und weiterzugeben. Die Schulen der Klöster, Pfarren und Stifte wurden auch in Ungarn zu Verbreitern des Schrifttums, der Wissenschaft und Musik, und damit bis zum Ende des Mittelalters zu den fast alleinigen Trägern der Kultur des westlichen Christentums.
Die Schulbildung ruhte auf zwei Grundpfeilern: der Grammatik und der Musik. In der mittelalterlichen Schule begleiteten die Kinder die Kirchenmesse oft zwei bis drei Stunden lang mit ihrem Gesang. Sowohl das gesangliche Material als auch der einheitliche liturgische Rahmen verbanden Ungarn mit der europäischen Christengemeinschaft, langsam aber begann sich das Antlitz des vom westlichen abweichenden ungarischen Gregorianums abzuzeichnen.
In bezug auf das gregorianische Repertoire übernahm man in Ungarn die mitteleuropäische, sog. pentatonisierende Variante. Angaben belegen, daß um 1028 ein Regensburger Mönch namens Arnoldus nach Esztergom (Gran) kam, der gemeinsam mit Bischof Anastas aufgrund alter Schriften eine neue Gesangsreihe zu Ehren des Regensburger hl. Emmeram zusammenstellte. Am Gedenktag des Heiligen sang der Chor der Kathedrale bereits die neuen Gesänge. Hauptsächlich das Aufblühen des Kultes der lokalen Heiligen ermunterte die Musiker, ähnliche Werke zu schreiben.
In Ungarn erfuhr das Grundmaterial der gregorianischen Musik von Anfang an eine Bereicherung durch Elemente örtlicher Bedeutung. Der erste Zyklus eindeutig ungarischen Ursprungs - eine Antiphonien- und Responsoriensammlung - entstand anläßlich der Heiligsprechung König Stephans, vermutlich in Székesfehérvár. Sein bedeutendster Satz blieb im Érdy-Codex vom Ende des Mittelalters erhalten: "Gegrüßet seist Du, glücklicher König Stephan der Heilige". Später wurden auch zu Ehren anderer ungarischer Heiliger, z. B. Herzog Emmerichs und König Ladislaus, Psalme in Gedichtform verfaßt.
Wahrscheinlich noch zur Herrschaftszeit Stephans und gerade im Zusammenhang mit der Staats- und Kirchenorganisation kam es auch zur Neuordnung der liturgischen Musik. Das betraf einerseits das Repertoire, andererseits den Aufbau der Liturgie - hauptsächlich der Psalmen, und schließlich die Melodievarianten, das heißt was, in welcher Reihenfolge und nach welcher Melodie zu singen war. Gleichfalls ein Charakteristikum des heimischen Gregorianums ist die Geburt der die deutsche Neumaschrift und die französisch-italienische Orientation verschmelzenden ungarischen Notenschrift, deren erste lesbare Beispiele im Pray-Codex zu finden sind.
Am Fürstenhof dienten zur selben Zeit außerdem noch Pfeifer und Trommler, die sich gruppenweise in den umliegenden Dörfern niederließen. Zu ihnen gehörten auch die Spielleute. Neben der lateinischen (westlich christlichen) Musikalität lebten - vor allen Dingen - in den Volksbräuchen die Gesänge des heidnischen Zeitalters weiter.
TANZ
Was die frühe ungarische Tanzkultur anbelangt, läßt sich - mangels entsprechender Quellen - vorerst nur vermuten, wie die im Karpatenbecken lebenden Völker im Zeitraum vor der Landnahme und unmittelbar danach getanzt haben.
Anhand vergleichender Untersuchungen der wenigen historischen Quellen sowie der Tanzfolklore der heutigen europäischen Völker können drei große Tanzregionen unterschieden werden:
1. Die südosteuropäische Region, wo der Kettentanz bzw. Reigen dominieren und wo man in Gruppen, zur Hälfte gebunden tanzt.
2. Osteuropa, wo die individuellen, ungebundenen, improvisatorischen Solotänze vorherrschen.
3. Westeuropa, wo die völlig gebundenen Paartänze in Gruppen und Raumformationen (Quadrille und Kontratänze) das Rückgrat des Tanzens bilden.
Wie sich aufgrund der tanzhistorischen Denkmäler - vor allem der großen Zahl westeuropäischer Quellen - herausstellte, vertreten diese drei Regionen eigentlich drei Abschnitte der historischen Entwicklung der europäischen Tanzkultur. Die von den kulturellen Veränderungen in Europa lange Zeit abgeschnittenen Balkanvölker haben die mittelalterlichen Ketten- und Rundtänze bis in die Gegenwart überliefert. Die osteuropäischen Völker (darunter auch die Ungarn) gaben die am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit modern werdenden Paartänze der Renaissance weiter, und von den Völkern Westeuropas wurden die sich im 18. Jahrhundert verbreitenden Quadrillen und Kontratänze bewahrt.
Bei Untersuchungen innerhalb dieses weitergefaßten historischen, geographischen und gesellschaftlichen Rahmens gelang es, eine ältere und eine neuere historische Schicht der ungarischen Volkstanztradition abzusondern, die sich streng voneinander unterscheiden.
Die Tänze alten Stils zeigen auffällige Übereinstimmungen mit den Tänzen der im Karpatenbecken lebenden Nachbarvölker. Die an der Grenze zwischen der alten und neuen historischen Schicht stehenden ungarischen Rundtänze weisen hauptsächlich südosteuropäische und alte mittelalterlicher Bezüge auf. Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt die landnahmezeitlichen Quellen, scheint es, als hätte es schon damals Anzeichen der Zweigesichtigkeit in unserer Kultur gegeben. In der Reihe der Kampfspiele, Gesänge und Vergnügungen, die in den Beschreibungen des Sankt Gallener Abenteuers und der Gesta Hungarorum des Anonymus erwähnt werden, kommen die Tänze in ähnlich undifferenzierter Form vor wie die historischen und folkloristischen Parallelen aus dem Osten.
Von einer anderen Dimension der mittelalterlichen ungarischen Tanzkultur künden die Darstellungen der aus dem 10.-11. Jahrhundert überlieferten Kunstgegenstände, wie beispielsweise die Jokulatoren auf dem Horn des Lehel oder die auf der Krone des byzantinischen Kaisers Konstantinos Monomachos abgebildeten Mirjam-Tänze. Sie sind Zeugnisse dafür, wie mittels dynastischer Beziehungen aus den entlegeneren Teilen Europas Elemente der dortigen Kultur (unter anderem der Tanzkultur) nach Ungarn gelangten.
