URUNGARISCHES ZEITALTER
Nach dem vorungarischen folgt in der sprachgeschichtlichen Periodisation das urungarische Zeitalter, welches von der Lösung aus der ugrischen Sprachgemeinschaft, also von der Zeit um 1000 v. Chr., bis zur Landnahme im Karpatenbecken dauerte. Da es aus diesem Zeitraum keine Sprachdenkmäler gibt, wird es das Zeitalter ohne Sprachdenkmäler genannt.
Im Laufe seiner Wanderungen dürfte das Ungartum seinen aus der Periode des finnisch-ugrischen Zusammenlebens geerbten Wortschatz sowie das grammatische System erweitert haben. Zu dieser Entwicklung trugen die sich von Zeit zu Zeit verändernde Umgebung und der Einfluß benachbarter Völker bei. Besonders an der Bereicherung des sich am flexibelsten ändernden Wortschatzes kann man die kulturellen Einflüsse verfolgen. Zahlreiche Lehnwörter sind Beweis für die intensiven Nachbarbeziehungen.
Die Zahl unserer alttürkischen Lehnwörter beträgt rund 300. Doch nicht ihre Menge, sondern in erster Linie ihr Charakter zeigt, welch tiefgreifende Wirkung sie auf die ungarische Kultur ausgeübt haben müssen. Im Vergleich zu den früheren Zeitaltern sind dies die Worte einer grundlegend neuen Lebensweise.
Mit Begriffen aus den alttürkischen Sprachen wurde unter anderem der Wortschatz in bezug auf die Tierhaltung bereichert: Stier, Ochse, Lamm, Ziege, Widder, Käse, Quark, Wolle, Fessel, Zügel, Pferch, Stall, Schwein, Huhn, Kamel. Auch im Zusammenhang mit dem Ackerbau erbte die ungarische Sprache einige Begriffe: Gerste, Weizen, Sichel, Pflug, Stoppelfeld, mahlen, Obst, Apfel, Birne, Nuß, Hopfen, Weintraube, Wein, Erbse. Handwerke bezeichnen Zimmermann, Kürschner, Krämer; auf die Bekleidung beziehen sich Wörter wie Überrock, Samt, Schnalle, Perle, Fingerring, schicklich, Spiegel. Zum Bereich des gesellschaftlichen und religiösen Lebens gehören die Begriffe: Gesetz, Dolmetscher, Zeuge, Frieden, Miete, Kredit, Trauer, Hexe, Drachen, (be)hexen und (ver)zaubern.
Alttürkischer Herkunft sind in der ungarischen Sprache beispielsweise Arm, Knie, Fußknöchel, Bart, Sommersprosse sowie einige auf Eigenschaften verweisende Worte: klein, winzig, schwach, alt, blau, gelb, mutig und feige.
An die Flora und Fauna der natürlichen Umgebung erinnern Löwe, Dachs, Bussard, Geier, Turul, Falke; Herlitze, Schlehe, Hagebuche, Esche, Unkraut, Rohrmatte, Nessel, Hanf.
Nicht Nachbarschafts-, sondern Handelsbeziehungen verbanden die Vorfahren der Ungarn mit den Persern, wie die Lehnworte Zoll und Markt (Messe) belegen, sowie mit den iranischen Alanen, wofür die Wörter Brücke und Glas, aber auch Harnisch, Schwert, Dame (Fürstin), reich, Kuh, Milch, Butter (Fett), Filz und zehn Beweise sind.
Wie die Lehnwörter bezeugen, hatte das Ungartum bereits vor der Landnahme Kontakt zu slawischen Völkern und Sprachen. Damals übernahm es die Bezeichnungen für Donau, Grieche, Pole, Gehöft, Reuse und Woiwode.
Auch auf dem Wege der Ableitung und Zusammensetzung erfuhr der ungarische Wortschatz Bereicherung. Neue Silben und Silbegruppen bildeten sich heraus. In dieser Zeit enstanden durch Ableitungen beispielsweise die Worte Gott, Fürst, Quelle und Macht.
Das ungarische Lautsystem durchläuft eine große Veränderung; es wird reicher und steht dem heutigen System mit Konsonanten bereits näher. Das gemischte Lautsystem entwickelt sich.
In der Grammatik lassen sich die ersten Grundlagen der heutigen grammatischen Ordnung beobachten, ihre auf dem finnisch-ugrischen Erbe basierenden, bestimmenden Merkmale bilden sich heraus.
ALTUNGARISCHES ZEITALTER
Das altungarische Zeitalter ist jene Periode der ungarischen Sprachgeschichte, die mit der Landnahme im Karpatenbecken beginnt und bis 1526 andauert. Prozesse des Sprachenwandels vollziehen sich innerhalb eines langen Zeitraumes, und da die vorliegende Untersuchung mit Beginn obigen Zeitalters abschließt, können hier lediglich die Entwicklungsrichtungen dieser Veränderungen berührt werden. Doch da selbst im Fall eines sich sehr flexibel wandelnden Wortschatzes der Zeitpunkt der Veränderungen nicht auf einige Jahrzehnte einzuengen ist, läßt es sich nicht vermeiden, in mehreren Fällen auch auf die sprachhistorischen Erscheinungen des Zeitraumes nach der Staatsgründung zu verweisen.
Nach der Landnahme im Karpatenbecken beginnt parallel zur Fortsetzung der halbnomadischen und ackerbestellenden Lebensweise eine neue Kultur Fuß zu fassen. Der Einfluß des östlichen und westlichen Christentums, die Lebensweise der hier ansässigen Ackerbauern und Viehzüchter setzt in der Geschichte des Ungartums vom 11. Jahrhundert an eine bedeutende Etwicklung auf dem Gebiet der geistigen und materiellen Kultur in Gang. In sprachlicher Hinsicht zeigt sie sich am schnellsten im ungarischen Wortschatz.
Mit den Methoden der Wortbildung, hauptsächlich durch Zusammensetzung, enstanden sehr viele neue Wörter.
Von Einfluß auf den Wortschatz des seßhaften Ungartums waren in erster Linie die slawische, deutsche und lateinische Sprache; später begegnet man auch italienischen bzw. französischen Einflüssen. Den slawischen Sprachen wurden vor allem Ausdrücke im Zusammenhang mit der Tierhaltung und dem Ackerbau entlehnt: Getreide, Roggen, Stroh, Egge, Sense, Bohne, Pfirsisch, Rübe, Schaf, Lamm, Hahn, Taube, Joch, Heu und Hirte. Slawischen Ursprungs sind die an Handwerksberufe gebundenen Substantive wie Böttcher, Schmied, Weber, Mühle, Damm, ebenso wie die an das Haus anknüpfenden Wörter für Küche, Keller, Fenster, Schlüssel, Bank, Tisch und Mittagessen. Auch der auf das Staats- bzw. Kirchenwesen bezogene ungarische Wortschatz weist viele slawische Lehnwörter auf: Kreuz, Christ, Mönch, Nonne, heilig, Wunder, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Weihnachten, Kaiser, König, befehlen und Arbeit.
Aus dem Deutschen übernahm die ungarische Sprache in erster Linie Begriffe des höfischen und militärischen Lebens: Herzog (Prinz), Graf, Pelz, Panzer, Rost, Ger (Speer), Belagerung, Kastell (Schloß), Ofen und Laute.
Die lateinische Sprache trug in außerordenlicher Weise zur Entstehung des ungarischen Schritftums bei, sowohl was den Stil als auch das äußere Erscheinungsbild anbelangt. Ihr verdanken wir hauptsächlich die im Zusammenhang mit dem religiösen Leben und dem Staatswesen stehenden Wörter und Begriffe: Schule, Kloster, Papst, Engel, Satan, Pfarrer, Apostel, Krone und Liste (Register).
Aufgrund lauthistorischer Vergleiche läßt sich sagen, daß die Zahl der Konsonanten im Ungarischen durch Weiterentwicklung finnisch-ugrischer Laute und Lautverbindungen zum Ende der urungarischen Periode gewachsen war. Die Laute der Lehnwörte paßten sich dem ungarischen Lautsystem an. Die Konsonanten vom Anfang des altungarischen Zeitalters stehen den heutigen schon näher.
Für die Geschichte der ungarischen Sprache ist die altungarische Periode bereits eine Zeit mit Sprachdenkmälern. Selbst wenn man noch nicht von einem ungarischsprachigen Schrifttum sprechen kann, hielten unsere Vorfahren vermutlich schon damals kürzere oder längere Texte in Kerbschrift fest. Sprachliche Denkmäler aus diesem Zeitraum sind vereinzelte Texte in griechischer oder lateinischer Sprache und vom Ende des 12. Jahrhunderts an dann ganze Schriften.
