{G-112.} Die Organe der dörflichen Selbstverwaltung

Nach Darstellung der kleineren Einheiten der inneren Organisation des ungarischen Dorfes wollen wir uns nun mit den Organen befassen, die im wesentlichen die Gesamtheit der Dorfbewohner zusammenhielten. In diese Organe drangen natürlich viele Elemente von außen und von oben ein, doch finden sich unter ihnen auch solche, die von den Bewohnern der Siedlung selbst geschaffen wurden, beziehungsweise im Land allgemein verbreitete Organe, die die Dorfbewohner entsprechend ihren lokalen Bedürfnissen aufbauten.

Abb. 11. Dorfsiegel.

Abb. 11. Dorfsiegel.
1. Tápé, Kom. Csongrád, 1641; 2. Kislõd, Kom. Veszprém, 1841; 3. Magyaralmás, Kom. Fejér, 1788

Der Vorsteher des Dorfes, der bíró (Dorfschulze), hatte in den verschiedenen Perioden immer wieder andere Kompetenzen und Aufgaben. Wie auch sein Name zeigt – bíró heißt Richter-, war die Rechtssprechung unter seinen Befugnissen die wichtigste. Die Vorläufer dieses Amtes lassen sich bis zur Entstehung der ungarischen Dörfer im 11. Jahrhundert zurückverfolgen. Seine Aufgabe war die Aufrechterhaltung der Ordnung im Dorf, die Steuereintreibung beziehungsweise die Hilfeleistung dabei sowie die Rechtsprechung in niederer Instanz. Vom Ende des Mittelalters an hielt man die Rechtsgewohnheiten der Siedlungen in Dorfgesetzen fest, die den örtlichen Erfordernissen angepaßt waren und für deren Einhaltung der Dorfschulze bürgte.

Im vergangenen Jahrhundert war die Schulzenwahl eines der wichtigsten Ereignisse im Dorf, da viel davon abhing, welches Mitglied aus welcher Familie und aus welchem Geschlecht dieses wichtige Amt erwarb. Der Ausrufer trommelte schon früh am Morgen die Wahllokalität und die Namen der Kandidaten aus. Der scheidende Dorfschulze bat jene um Verzeihung, die er seit seinem Amtsantritt auf irgendeine Weise beleidigt hatte, und schlug gleichzeitig einen Nachfolger vor. Wahlberechtigt waren nur die Mitglieder des Dorfvorstandes, des Gemeinderats, und zwar entweder durch Akklamation oder durch namentliche Abstimmung. Der alte Dorfschulze übergab dem neuen den Richterstab, den Schlüssel der Dorflade und das Dorfsiegel. Im Anschluß daran erfolgte die Wahl der kleineren Amtsträger. Schließlich wurde der neue Dorfschulze feierlich nach Hause geleitet. Er lud die Mitglieder des Gemeinderats und die wohlhabenderen, tonangebenden Bauern zu einem Festgelage ein. Mancherorts pflanzte man zum Gedenken an die Wahl des Dorfschulzen einen Baum vor seinem Haus. Gleichzeitig holte man vom Haus des vorhergehenden Dorfschulzen den Strafblock, um dadurch zu symbolisieren, daß die Rechtspflege jetzt bereits in die Hände des neuen Amtsträgers übergegangen war.

In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wurden der Wahlablauf und die Kompetenz des Dorfschulzen gesetzlich geregelt. Der Dorfschulze wurde für drei Jahre gewählt, und zwar unter drei Personen, die der Oberstuhlrichter des Kreises vorgeschlagen hatte. Die freie Wahl war also sehr beschränkt, zumal die Kandidaten aus den Reihen der „zuverlässigen“ wohlhabendsten Bauern ausgesucht wurden, von denen die Obrigkeit des Kreises und des Komitats wußte, daß {G-113.} sie die Interessen der Staatsmacht vertreten würden. Der Aufgabenbereich des Dorfschulzen erstreckte sich auf drei Gebiete. Er leitete die autonome Verwaltung der Gemeinde und führte die Beschlüsse des Gemeinderats, des Vorstandes durch. Er verschaffte den Komitatsverordnungen und den Landesgesetzen im Dorf Geltung, und er sprach schließlich in einem verhältnismäßig engen Bereich auch Recht (Niederstgerichtsbarkeit). Seine Kompetenzen erstreckten sich in diesem Fall zum größten Teil auf die Ahndung von Flurdiebstählen, die Schlichtung von Streitigkeiten, auch von kleineren Besitzstreitigkeiten sowie auf das Vorgehen gegen Ordnungsstörer.

Neben dem Dorfschulzen waren zur Durchführung von Teilaufgaben auch noch andere „Richter“ tätig, so der törvénybíró (Gesetzrichter), der der Stellvertreter des Dorfschulzen war, diesem in allen Dingen beistand und vornehmlich in kleineren Vergehen Recht sprach, und der mezõbíró (Flurrichter), der sich mit Angelegenheiten der Landwirtschaft befaßte. Doch stoßen wir in den Urkunden und Aufzeichnungen oft auch auf andere Beauftragte. Außerdem wurden bereits vom Mittelalter an entsprechend der Siedlungsgröße dem Schulzen zwei bis zehn esküdt (Schöffen) unmittelbar zur Seite gestellt. Aus ihren Reihen gingen die künftigen Schulzen hervor, da sie inzwischen alle Probleme des Dorfes gut kannten. Im allgemeinen mußte sich immer einer von ihnen im Gemeindehaus aufhalten. Er nahm die Beschwerden entgegen und benachrichtigte den Schulzen, wenn sich eine zu seinem Kompetenzbereich gehörende Frage ergab. Die Schöffen nahmen an Zwangsvollstreckungen teil und unterbreiteten Vorschläge in bezug auf die Armenpflege.

Der kisbíró (Gemeindediener oder Ausrufer) war ein fester Angestellter der Gemeinde. Er stand den ganzen Tag über dem Gemeindehaus zur Verfügung, wofür er Naturalien und Kleidung erhielt. Diese Art der Entlohnung wurde seit Ende des vorigen Jahrhunderts meistens von einem festen Gehalt abgelöst. Der Gemeindediener hatte die Parteien ins Gemeindehaus zu holen und amtliche Bescheide zuzustellen. Seine wichtigste Aufgabe war das Austrommeln, eine Art der öffentlichen Bekanntmachung, wobei er an verschiedenen Stellen des Dorfes durch Trommelwirbel die Aufmerksamkeit auf sich lenkte, um dann den Versammelten Nachrichten von öffentlichem Interesse, Ratsbeschlüsse und Kaufaufrufe zu verlesen.

Abb. 12. Strafklotz.

Abb. 12. Strafklotz.
Nagyszalonta, Kom. Bihar, Zweite Hälfte 19. Jahrhundert

In jedem Dorf waren Nachtwächter (archaisch Bakter genannt) angestellt, die für ihren Dienst Naturalien und Kleidung, vor allem Stiefel erhielten. Sie waren wenigstens zu zweit, doch hatten größere Siedlungen mitunter auch noch mehr Nachtwächter. Ihr Dienst begann am Abend, wenn es dunkel wurde, und endete mit Tagesanbruch. Einer von ihnen hielt sich immer im Gemeindehaus auf, während die anderen im Dorf ihre Runden zogen und zum Zeichen dafür, daß sie ihren Dienst ordnungsgemäß versahen, stündlich ins Horn stießen und ihren Vers absangen. Zu ihren Aufgaben gehörte es, Dorfbewohner, die noch spät unterwegs waren, und Fremde anzusprechen, die Wirtshäuser zu kontrollieren sowie Diebstähle zu verhindern. Die Festgenommenen wurden ins Gemeindehaus gebracht und in einem Gefängnisraum eingesperrt. Die Nachtwächter mußten über ihre Arbeit {G-114.} unmittelbar dem Dorfschulzen Rechenschaft ablegen. Die Feuerwachen überwachten vom Kirchturm aus Tag und Nacht das Dorf, im Sommer auch die Flur. Wenn sie irgendwo ein Feuer bemerkten, läuteten sie Sturm und markierten durch eine Fahne oder Laterne die Richtung des Brandes.

Der Dorfschulze, die Schöffen und die Mitglieder des Gemeindevorstands vertraten die behördliche Autorität sowohl nach innen als auch nach außen den höheren Behörden gegenüber. In der Kirche, bei Hochzeitsfeiern und bei jedweden anderen Zusammenkünften gebührte ihnen ein Platz an hervorgehobener Stelle. In Fragen, die mehrere Dörfer oder gar den ganzen Kreis betrafen, vertraten sie die Interessen der Gemeinde.

37. Austrommeln

37. Austrommeln
Szentistván, Kom. Borsod-Abaúj-Zemplén

Das unter den Bauern des Dorfes nicht verteilte und verschiedenen Zwecken dienende Gemeindeland (Allmende) wurde als Gemeineigentum bewirtschaftet. Die größte Bedeutung kam in diesem Zusammenhang der Weidegenossenschaft (legelõ társulat) zu, die beinahe in jedem ungarischen Dorf anzutreffen war. Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft war der Weidegrund – sofern vorhanden – für die landbesitzenden Bauern in einem Stück aus dem gutsherrlichen Besitz abgetrennt worden. Dieses Land wurde nicht aufgeteilt, vielmehr {G-115.} legte man entsprechend den einstigen Fronhöfen Weideanteile fest. Je nach der Größe seines Ackerlandes durfte jeder eine dementsprechende Anzahl Vieh auf die Weide treiben. Die einstigen Kätner, aus denen später die landarmen Bauern und Landarbeiter hervorgingen, hatten keine Weideberechtigung beziehungsweise mußten dafür oft eine hohe Pacht bezahlen. Die Mitglieder der Weidegenossenschaft legten zur Instandhaltung der Weide, zur Reinigung der Brunnen und insbesondere für die Entlohnung der Hirten jährlich eine gewisse Geldsumme zusammen. Hiervon bezahlten sie den ,Altbauern“, den sie später Vorsitzender nannten, ferner die Weide- beziehungsweise Pußtabauern, die unmittelbar über die Ordnung auf den Weiden wachten. Außerdem wurden noch ein Kassierer gewählt und entsprechend der Weidegröße alle drei Jahre mehrere Ausschußmitglieder. Am Jahresende wählte die Weidegenossenschaft unter den am geeignetsten erscheinenden Bewerbern die Hirten aus, die außer ihrer Entlohnung für jedes Stück Vieh vom Besitzer ein bestimmtes Deputat erhielten.

Die endgültige Form der Forstgenossenschaft hat sich ebenfalls nach der Aufhebung der Leibeigenschaft herausgebildet, als die Wälder der Gutsherren und der Bauern voneinander getrennt wurden. Die Bauernwälder wurden gemeinsam bewirtschaftet, worauf auch der Staat bestand. An Orten, wo es zu einer Aufteilung des Waldes gekommen war, hatte dies in kurzer Zeit zur völligen Abholzung der Wälder geführt. Die Anteilquote wurde entsprechend dem Grundbesitz festgelegt. Später konnten auch unabhängig davon Anteile gekauft und verkauft werden. Ein solches Forstrecht garantierte dem Eigentümer Gewinnbeteiligung am Nutzen des Holzeinschlages beziehungsweise entsprechende Naturalbezüge. An der Spitze der Forstteilhaber stand der Vorsitzende, früher der Forstschulze, der nach Anhörung der Anteilbesitzer, jedoch immer aufgrund eines Mehrheitsbeschlusses über den Einschlag, die Aufforstung und die Höhe der verschiedenen Beiträge entschied. Die Tätigkeit der Forstgenossenschaft wurde von den Organen der staatlichen Forstverwaltung kontrolliert und gelenkt, doch erreichten diese Wälder nicht unbedingt das Niveau der Forste, die vom Staat oder von Großgrundbesitzern bewirtschaftet wurden.